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© ASA

Eishockey: Eiskalte Liebe

Wintersport ist in Kanada Teil der Nationalkultur. Vor allem Eishockey ist allgegenwärtig.

Wer etwas über das Verhältnis der Kanadier zum Wintersport lernen will, der muss eigentlich nur eine ihrer Fünf-Dollar-Noten in die Hand nehmen. Deren Rückseite zeigt ein Ensemble idyllischer Wintersportszenen: Kinder fahren Schlitten, laufen an der Hand eines Erwachsenen Schlittschuh, spielen Eishockey. Wer genau hinschaut, entdeckt links unter einem großen Eiskristall einen Auszug aus der Kurzgeschichte des Autors Roch Carrier mit dem Titel „Der Hockey-Pullover“. Die erschien vor 30 Jahren und gehört heute zur Standardlektüre an kanadischen Schulen. „Die Winter meiner Kindheit waren sehr lange Jahreszeiten“, heißt es darin. „Wir lebten an drei Orten: In der Schule, in der Kirche und auf der Eislaufbahn – und das wahre Leben spielte sich auf der Eislaufbahn ab.“

Dass diese Einschätzung auch heute noch für viele Kanadier stimmt, lässt sich jetzt wieder quer durch das mit einem frühen, lang andauernden Winter gesegnete Land beobachten. Vor allem Eishockey, von Kanadiern nur Hockey genannt, ist tief in der Kultur des Landes verankert. Was das bedeutet, sieht man derzeit zwischen Halifax und Vancouver in jedem Park und in jedem Eisstadion, von denen es im flächenmäßig zweitgrößten Land der Erde tausende gibt. „Das ist wie in Deutschland mit dem Fußball – jedes Kind, das hier aufwächst, bekommt sehr früh Schlittschuhe, einen Eishockeyschläger und einen Puck in die Hand“, erzählte vor einiger Zeit der aus Deutschland verpflichtete Eishockey-Profi Christoph Schubert dem Tagesspiegel bei einem Interview in Kanada. Schubert, der seit kurzem bei den Atlanta Thrashers spielt, war von 2005 bis 2009 einer der Stars der Ottawa Senators und wurde von den Fans vor allem wegen seines harten, körperlichen Stils geliebt.

Wer der Begeisterung der Kanadier für Wintersport nachspüren will, kann das zum Beispiel in einem kleinen Stadion an der Eglinton Avenue im Nordosten der Millionenmetropole Toronto. Hier treffen sich jeden Sonnabend die Teams der House League, jugendliche Freizeitspieler, die in der North Toronto Hockey Association vereint sind. „Ich laufe einfach gerne sehr schnell Schlittschuh“, erklärt der Grundschüler Nolan, während er sich im Umkleideraum des Stadions seine Ausrüstung anzieht und den Schutzhelm aufsetzt. Mit vier Jahren drehte er seine ersten Runden auf dem Eis, seitdem hat ihn die Leidenschaft gepackt. Wie auch seinen Schulfreund Andrew, der sich gerade die Torwartausrüstung anzieht und der seit fünf Jahren Wochenende für Wochenende mit der Juniormannschaft der „ZED Financial Flyers“ spielt, benannt nach einem örtlichen Sponsor. Was die beiden antreibt, ist die Freude daran, über das Eis zu flitzen und ihre Kräfte zu messen – im Vergleich zu den Profispielern der NHL wirken die beiden Jungs und ihre Mitspieler dabei jedoch bemerkenswert friedliebend. Zwar kommt es auch in den kanadischen Amateurligen immer mal wieder vor, dass Spieler mit den Fäusten aufeinander losgehen, zum Teil angetrieben durch übertrieben ehrgeizige Eltern, die aus ihren Kindern eines Tages millionenschwere Profis machen wollen. Aber als Andrew und Nolan mit ihrem Teamkameraden übers Eis flitzen, ist von dieser Verbissenheit noch nichts zu spüren.

Kanadas Winter bringen oft fünf bis sechs Monate voller Schnee und Eis, so dass viele Eltern ihren Kindern schon früh eine Anfängerausrüstung kaufen, die es für weniger als 100 Euro gibt. Angesichts der allgegenwärtigen Eislaufbahnen ist für viele Kinder der Weg in eine Hockeymannschaft selbstverständlich, erklärt später auch Jim Leet, dessen Sohn und Tochter beide ebenfalls in Jugendteams spielen. Während er im Stadion sitzt, geht sein Blick immer wieder von dem Spiel der Kinder auf dem Eis zu seinem Blackberry, über das er die aktuellen Spiele der Profiliga verfolgt.

Mindestens 11 000 Freiluft-Eisstadien gibt es in Kanada nach Angaben des Internationalen Eishockey-Verbandes, dazu mehr als 2600 überdachte Stadien. In Deutschland sind gerade mal 49 Eishockey-Freiluftstadien registriert, dazu 164 überdachte Stadien – und das bei einem Bevölkerungsverhältnis von mehr als 80 Millionen in Deutschland gegenüber gut 30 Millionen in Kanada. Die Zahl der offiziell registrierten Eishockeyspieler wird in Kanada mit einer halben Million angegeben – zwanzigmal mehr als im bevölkerungsreichen Deutschland. Und auch gegenüber den USA ist die Zahl der registrierten Spieler beim nördlichen Nachbarn immer noch um ein Zehnfaches höher. Kein Wunder, dass die Sozialwissenschaftlerin Patricia Hughes-Fuller, die die kulturelle Bedeutung von Eishockey in Kanada untersuchte, von einer „nationalen Obsession“ spricht.

Wer in Kanada herumfragt, weshalb Eishockey hier die alles dominierende Sportart ist, hört vor allem von älteren Kanadiern immer wieder nostalgische Geschichten aus der eigenen Jugend, in denen die klaren, kalten Wintertage und das Hockeyspiel im Park um die Ecke eine zentrale, glückliche Kindheitserinnerung sind. Für Northop Frye, einen der einflussreichsten kanadischen Literatur- und Sozialwissenschaftler des 20. Jahrhunderts, symbolisierte Eishockey den „idyllischen Mythos“, mit dem auch moderne Kanadier ihre Sehnsucht nach einer heilen Welt ausdrücken. Für Frye steht die Liebe zum Eishockey, das in Kanada seit Jahrhunderten gespielt wird und nach manchen Überlieferungen bereits bei den Ureinwohnern populär war, für Naturidylle, Pioniergemeinschaft, Kleinstadt-Geborgenheit und die Verwurzelung mit dem Land, das sich die eigenen Vorfahren oft unter großen Entbehrungen angeeignet haben.

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