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© dpa

Eisschnelllauf: Drama in Orange

UPDATE Schock für Sven Kramer: Ein verhängnisvoller Bahnfehler hat den niederländischen Topfavoriten über 10.000 Meter sensationell Olympia-Gold gekostet. Das Pech des einen, war das Glück der anderen.

Am Dienstagabend, in Mitteleuropa war es kurz vor elf, schwappte von den Niederlanden aus eine SMS-Flutwelle über den Atlantik hinüber nach Kanada. Binnen weniger Minuten sei sein Handy voll gewesen mit Nachrichten entsetzter Freunde und Bekannter, erzählte ein niederländischer Journalist, der zur selben Zeit in der Eisschnelllaufhalle von Richmond stand und den Grund für die Aufregung direkt vor seiner Nase hatte: 1,85 Meter groß, roter Kopf, Sven Kramer.

Als absoluter Goldkandidat war der 23-jährige Friese in den Wettkampf über 10.000 Meter gegangen – und einsam zog Kramer in dem erneut von seinen Landsleuten gekaperten Oval seine Bahnen. Olympiasieg und olympischer Rekord waren längst beschlossene Sache, als das Unglaubliche passierte: Der Holländer machte einen Bahnfehler. Vier Runden vor Schluss entschied er im letzten Moment, auf die Innenbahn zu gehen, als er eigentlich auf der Außenbahn hätte weiterlaufen müssen. Den Zuschauern stoppte der Atem. Während Kramer weiter seine Runden drehte, wussten die Zuschauer schon, dass er trotz immer deutlicherer Führung nicht gewinnen würde. Er würde disqualifiziert werden. Nicht er würde Gold gewinnen, sondern der Südkoreaner Lee Seung-Hoon vor dem Russen Iwan Skobrew aus Russland.

Eine Ahnung, die Kramer schon im Rennen hatte, verwandelte sich im Ziel in bittere Gewissheit – dann warf er alle Etikette über Bord. Erst feuerte er seine Rennbrille in hohem Bogen von sich, kickte frustriert ein Wechselhütchen weg und versetzte seinem Trainer einen kräftigen Schubs, bevor er ihn bebend vor Wut „Klootzak“ nannte, ein in Holland so gängiges Schimpfwort ist wie „Arschloch“. „Er hat mich falsch eingewiesen“, sagte Kramer.

Riesenwut auf den Trainer

Es war in der Tat sein Trainer, Gerard Kemkers, gewesen, der Kramer in der 17. Runde die falsche Bahn angezeigt hatte. Mit Grabesmiene trat der eine halbe Stunde später vor die Mikrofone und sagte tonlos: „So etwas darf nicht passieren, dafür muss ich die Verantwortung übernehmen.“ Mit zwei Meter Abstand zu den Fragestellern, die Arme fest vor der Brust verschränkt, gab der Coach der niederländischen Eisschnellläufer Einblicke in sein aufgewühltes Innenleben, sprach von einem Desaster, vom „schlimmsten Moment seiner Karriere“ und erklärte: „Für mich ist eine Welt zusammengebrochen.“

Die Trümmer eines dramatischen Nachmittags lagen da zu seinen und zu Kramers Füßen. Drei Goldmedaillen hatten Hollands Eisschnellläufer in Richmond bereits eingefahren: Kramer selbst über 5.000 Meter, Mark Tuitert und Ireen Wüst jeweils über 1500 Meter. Nun folgte eine ganz bittere Niederlage. „Für Holland ist das ein furchtbarer Schlag“, sagte Bob de Jong, dem der Anfängerfehler seines Teamkollegen die Bronzemedaille bescherte. „So einen Fehler“, sagte der 33-Jährige, „malst du dir in deinen schlimmsten Träumen aus. Und dann wachst du auf und siehst: Es ist tatsächlich passiert.“ Bei Olympia hatte es so einen Fall noch nie gegeben. Umso heftiger rieb sich de Jong die Augen: „Ich kann nicht glauben, dass er das wirklich getan hat.“

Genauso ging es auch dem Star der Langstrecke selbst. „Das war das erste Mal überhaupt, dass ein Trainer mir zurief, ich soll die Bahn wechseln“, schnaubte Kramer. Schon während des Rennens war ihm klar geworden, dass etwas nicht stimmte, nämlich in dem Moment, als er Naomi van As, Hockey-Olympiasiegerin von Peking, auf der Tribüne erblickte. „Ich denke, es waren die besten zehn Kilometer meiner Karriere. Aber dann sehe ich meine Freundin, wie sie die Hände vors Gesicht schlägt“, erzählte Kramer später. „Was für eine Scheiße!“

Andere profitierten von Kramers Missgeschick

Ob das nun das Ende der seit fünf Jahren währenden Zusammenarbeit mit seinem Trainer sein wird, ließ Kramer offen. Bereits vor Olympia waren Gerüchte im Umlauf, wonach Kramer künftig mit dem Amerikaner Peter Mueller zusammenarbeiten wolle. Nachdem die erste Wut verflogen war, zeigte er sich jedoch versöhnlicher. „Es ist noch nicht vorbei. Auch Kemkers kann Fehler machen. Darüber müssen wir intern sprechen.“ Kemkers versuchte seinen seltsamen Zuruf auf der Bahn mit einer Art Blackout zu erklären.

Ein Blackout von dem auch der Russe Iwan Skobrew profitierte. „Ich fühle mich schlecht wegen Kramer“, kommentierte der sein unverhofftes Glück, sagte aber auch: „Im Eisschnelllauf geht es eben nicht nur um kräftige Beine, sondern auch darum, wie stark dein Kopf im Rennen ist.“ Nicht zu vergessen der Druck, der auf Kramer lastete – durch die Fans, die Sponsoren, durch ihn selbst.

Der große Sieger eines kuriosen Rennens, in dem der Münchner Marco Weber Zehnter wurde, war jedoch ein 21-jähriger Südkoreaner. Lee Seung-Hoon, der eigentlich Shorttracker ist, jedoch die nationale Qualifikation verpasst hatte und vor wenigen Monaten rasch auf Eisschnelllauf umschulte. In doppelter Hinsicht überraschend kehrt er nun als Olympiasieger heim – und stellte ganz nebenbei einen olympischen Rekord von 12:58,55 Minuten auf. „Ich stelle mir die große Frage, wie er das wohl gemacht hat“, fragte Bob de Jong in den Raum. „Wir sollten versuchen, das zu ergründen.“

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