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Vancouver 2010 - Eisschnelllauf

© dpa

Eisschnelllauf: Grübeln und abreagieren

Anni Friesinger-Postma zweifelt nach ihrer ersten olympischen Enttäuschung an sich selbst. Über die 1.500 Meter am Sonntag hat sie vermutlich ihre letzte Chance auf eine Medaille und setzt sich entsprechend unter Druck.

Wohin es nach ihrem ersten Auftritt in Vancouver gehen sollte, war Anni Friesinger sofort klar: „Raus.“ Raus aus dem Olympischen Dorf, um nach ihrem kläglichen 14. Platz über 1000 Meter der fürs Erste wichtigsten Disziplin nachzugehen: „Abreagieren.“ Orte hierfür gibt es in Vancouver genug, allerdings dämmerte der 33-Jährigen auch schnell, was ihr bei der Vorbereitung auf das letzte olympische Einzelrennen in ihrer Karriere am meisten helfen würde. Kein Sandsack, keine Kneipe, keine Schlaftabletten. Sondern der Ehemann, dessen Nachnamen sie bei der Hochzeit im August 2009 ihrem eigenen anhängte. Seitdem heißt sie Anni Friesinger-Postma.

Als die Gattin im fernen Kanada nach einem ordentlichen Start zu Beginn der zweiten Kurve mit dem rechten Bein kurz wegrutschte und nur mit Mühe einen Sturz verhinderte, saß ihr Mann zu Hause im friesischen Deersum vor dem Fernseher. Um seine 300 Milchkühe musste sich der Landwirt und frühere Eisschnellläufer so spät am Abend nicht mehr kümmern. Aber tagsüber, da brauchen ihn die Tiere, deshalb muss seine Frau bei Olympia ohne ihn auskommen. Ein Zustand, den Anni Friesinger bis zum Wochenende dringend ändern wollte.

„Manchmal habe ich das Gefühl, dass ich nicht die beste Kuh im Stall bin“, hat sie einmal gesagt. Der Satz klang lustiger, als er gemeint war – und nach dem 1000-Meter-Finale in Richmond richtete die Besitzerin von vier olympischen Medaillen ihrem Mann aus: „Wenn er hier wäre, wäre das eine riesige Motivation für mich.“ Dieser Satz nun war mindestens so ernst gemeint wie er klang – und bei drei Tagen Zeit bis zu Friesingers finalem Einzelrennen bei Olympia sollte ein Kurztrip vom niederländischen Bauernhof in die kanadische Eishalle einzurichten sein.

Das war zumindest Friesingers Hoffnung, als sie sich nach der obligatorischen Medienschleife zum Trost-Telefonat mit Ids Potsma hinter den nächsten Vorhang verzog. Um 15 Uhr Ortszeit startet am Sonntag das Finale über 1500 Meter – jene Strecke, auf der die Oberbayerin 2002 in Salt Lake City das einzige olympische Einzelgold ihrer Karriere gewann. In Turin kam im Team-Wettbewerb noch ein zweites Gold dazu. Doch nach ihrem „Seuchenjahr“ mit Verletzungen vom rechten Knie bis runter zum linken Knöchel, garniert mit Schweinegrippe, wäre sie wohl froh, wenn es am Ende noch zu einer bronzenen Plakette reichen würde.

Ihr Ausrutscher vom Donnerstag hat die ohnehin schon diffizile Ausgangslage nicht verbessert. „Nach 300 Metern war es eigentlich vorbei“, rekapitulierte Friesinger ihren bösen Schnitzer im olympischen Oval – und wusste bei der Fahndung nach der Quelle des Übels zunächst keinen Schuldigen zu benennen außer sich selbst. „Es lief einfach nicht“, stellte sie bloß fest – und war gespannt auf die Videobilder vom Stolper-Lauf: „Da seh’ ich dann, was ich falsch gemacht habe.“

Ein bisschen meckerte die Frustrierte mit der roten Bommelmütze auf dem Kopf noch über das Eis in Richmond, das „bei Olympia schon ein bisschen schneller sein könnte“. Dann aber merkte die Frau, die sich in Vancouver nicht von Gerald Lutz, dem in den Pechstein-Fall involvierten Arzt der deutschen Eisschnellläufer behandeln lässt, dass Ausreden sie nicht weiterbringen. Alle haben schließlich dasselbe Eis unter den Kufen, nur einige sind momentan eben schneller als sie. Allen voran die 24-jährige Kanadierin Christine Nesbitt, die über 1000 Meter die Goldmedaille holte.

„Das ist natürlich tough – wenn du bei Olympia im eigenen Land die Top-Favoritin bist und dann wirklich gewinnst“, applaudierte Friesinger, die aber lieber an die vielen überraschenden Medaillengewinner im Olympic Oval denkt. Und an ihren Mann, der 1998 in Nagano erst einen Sturz hingelegt hatte, ehe er später über 1000 Meter Olympiasieger wurde. „Das mach’ ich jetzt auch“, sagt seine Frau.

Wegen ihrer Knieprobleme, die ihr vor allem beim Start zu schaffen machen, rechnete sich Anni Friesinger über die längere 1500-Meter-Strecke von vornherein bessere Chancen aus – und setzt sich nun für ihr Sonntagsrennen unter Druck. „Mein Mann hatte nach dem Sturz damals zwei weitere Chancen – ich hab’ jetzt noch eine.“ Und wenn der Gemahl seinen kranken Vater und die Kühe für ein paar Tage von jemand anderem versorgen lässt, kann er bei dieser finalen Gelegenheit sogar live dabei sein. Eine Karte für das 1500-Meter-Rennen hat ihm seine vorausschauende Frau jedenfalls längst besorgt.

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