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Eine Bahnfahrt die ist lustig, eine Bahnfahrt die ist lang. Fußball-Fans müssen 2020 Ausdauer beweisen

© AFP

EM 2020: Interrail für Fußballfans

4371 Kilometer Luftlinie liegen die zwei am weitesten voneinander entfernten Spielorte der Fußball-Europameisterschaft 2020 auseinander. Ein Turnier verteilt auf dem ganzen Kontinent: Für Groundhopper ein wahrer Segen.

Die größte und aufregendste und anstrengendste Herausforderung heißt Dublin–Baku. 4371 Kilometer Luftlinie, mit Schiff und Bahn noch ein bisschen mehr. 115 Stunden und 40 Minuten, umsteigen in Holyhead, London, Brüssel, Düsseldorf, Warschau, Moskau und Saratow. Macht acht Länderpunkte für Aufenthalte in Irland, England, Frankreich, Belgien, Deutschland, Polen, Russland und Aserbaidschan. Wenn es der Turnierplan zulässt, unternehmen routinierte Groundhopper zwischendurch noch Abstecher nach Glasgow, Amsterdam und Kopenhagen, was zwar die Fahrzeit ein wenig verlängert, aber zusätzliche Länder- und Stadionpunkte einbringt. Alles möglich bei dieser Fußball-Europameisterschaft im gar nicht mehr so fernen Jahr 2020.

Länder- und Stadionpunkte sind die nationenübergreifende Währung der Groundhopper, der Nerds unter den Fußballfans, die von der großen Mehrheit nicht so ganz ernst genommen werden, weil sie sich weniger für den Fußball interessieren als für das Abhaken von Städten und Stadien. Groundhopper schauen sich Spiele an, die sich sonst kaum einer anschaut, wenn sie denn nur weit genug weg sind. Bei der Europameisterschaft 2020 könnte sich das ändern. Es wird ein Turnier der Groundhopper, mit Reisen, die im Extremfall von Dublin nach Baku führen, vom westlichsten zum östlichsten Spielort. Die Erfahrung der Nerds in Fantrikots wird gefragt sein, auch und gerade unter den Traditionalisten. Wer weiß schon, wo die billigsten Hostels in Glasgow zu finden sind, welche Kneipe in Bukarest den besten Zwetschgenschnaps anbietet, wo der Bus zum Stadion von Bilbao abfährt, und das alles zugleich?

Wer kennt schon Baku, den Überraschungsgast bei der großen Party?

Die EM 2020 ist das fußballtechnische Äquivalent zur „Europareise“. Einem Brettspiel, bei dem allerlei Stationen passiert werden müssen und allerlei Aufgaben zu erledigen sind. Europa ist dabei in sechs Farbzonen eingeteilt, und so ungefähr wird das auch bei der EM ablaufen. Die Uefa plant mit sechs Gruppen zu jeweils vier Mannschaften, wahrscheinlich werden sie in regionale Zonen aufgeteilt, wobei sich deren Zusammenstellung schwierig gestalten dürfte. Baku ist eben doch ein bisschen weit weg und lässt sich nur mit viel gutem Willen mit St. Petersburg und Bukarest in ein Nord-Süd-Osteuropa-Dreieck zwängen, mit Abständen von jeweils 2000 Kilometern. Egal: Wäre schon seltsam, wenn die für ihren Geschäftssinn bekannte Uefa die Chance verpassen würde, zur EM 2020 eine eigene Edition der „Europareise“ herauszubringen. Da ließe sich einiges bewerkstelligen mit Quizfragen zu Bahnverbindungen, Nationalgerichten oder Autokennzeichen, und was ist eigentlich das beste Bier in Aserbaidschan?

Ach, Aserbaidschan ... Gestern noch so weit weg und heute so nah. Wer kennt schon Baku, den Überraschungsgast bei der großen Party, für die der europäische Fußball-Verband Uefa am Freitag die Einladungskarten verschickt hat? Eine Europameisterschaft in 13 verschiedenen Ländern, verteilt auf ganz Europa. Und Baku, die aserbaidschanische Hauptstadt, von der niemand so genau weiß, warum sie eigentlich dabei ist. Aserbaidschan hat keine große Fußballtradition und zudem ein kleines Demokratieproblem und dazu noch ein geografisches. Das führen die Traditionalisten gern als Kritikpunkt an gegen dieses Turnier, das sie als ausgefranst empfinden, als Verbeugung vor dem Kommerz und Ausverkauf ihrer Werte. Gibt doch gar keine richtige Turnieratmosphäre mehr, wenn jede Stadt bloß vier Spiele bekommt und sich die Fans über den ganzen Kontinent verteilen und darüber hinaus. Nach Baku am Kaspischen Meer, das der landläufigen Definition zufolge nicht mehr in Europa liegt.

Im Geiste des Traditionalismus hätte Spanien mit Madrid antreten müssen

Diese Argumentation ist so abwegig nicht. Große Fußballturniere verlieren alle zwei Jahre ein bisschen mehr von dem, was sie früher einmal ausgezeichnet hat. Die letzte heimelige Europameisterschaft hat es vor zehn Jahren in Portugal gegeben und die letzte einigermaßen überschaubare Weltmeisterschaft zwei Jahre später in Deutschland. Der Fußball ist ein Opfer seines Erfolges, er ist zu groß geworden für Feiern im Familienkreis. Zuletzt bei der EM 2012 in Polen und der Ukraine war der grenzüberschreitende Fanverkehr bescheiden und auf Charterflüge zu den Spielen beschränkt, hin und zurück am selben Tag. Bei der WM in Brasilien absolvierte die Mannschaft des Gastgebers allein für ihre Vorrundenspiele in Sao Paulo, Fortaleza und Brasilia insgesamt knapp 10 000 Flugkilometer. Auch da war der begleitende Fan-Transfer überschaubar.

Die Europameisterschaft in Europa ist nichts anderes als die konsequente Fortführung dieses Trends. Und was die Ausdehnung bis nach Aserbaidschan betrifft: Ja, streng genommen liegt Baku nicht in Europa. Aber streng genommen gibt es auch gar kein Europa, jedenfalls nicht in geografischer Hinsicht, da heißt der entsprechende und sehr viel größere Kontinent Eurasien. Europa definiert sich über eine historische, kulturelle und politische Identität. Europa ist eine Idee, die sich ständig weiterentwickelt. Wenn sich dieses Europa anlässlich eines Fußballturniers für ein paar Wochen und ganz systematisch selbst besucht, kann das dem Zusammenwachsen nur förderlich sein (und der Demokratisierung Aserbaidschans auch).

Selbst Kritiker werden anerkennen, dass die EM 2020 im Geist des Aufbruchs steht. Klassische Hochburgen machen Platz für neue Standorte, dafür ist Bilbao ein schönes Beispiel. Im Geiste des Traditionalismus hätte Spanien mit Madrid antreten müssen oder mit Barcelona, aber es hat Bilbao aufgeboten. Eine mutige Wahl, denn die baskische Metropole ist auch ein Symbol des innerspanischen Separatismus. Frankreich ist gar nicht dabei – weil es schon die Europameisterschaft 2016 ausrichtet. Portugal verzichtete zehn Jahre nach seiner großartigen EM 2004 auf eine erneute Bewerbung, auch die EM-Gastgeber von 2008 (Österreich und Schweiz) und 2012 (Polen und Ukraine) bleiben außen vor. Europa ist es ernst mit der Weiterentwicklung.

Im Zeitalter grenzenloser und kostengünstiger Mobilität ist das Leben ein großes Groundhopping

Ein Vordenker dieser paneuropäischen EM ist der britische Autor David Winner. Als die Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland anstand, wollte Winner dabei sein, aber nicht in Deutschland, sondern in … der Welt! Also ist er vier Wochen durch die Welt gereist, von Berlin über Norwegen, Polen, Schweden, Italien und England, über Südkorea, Japan, Kanada, die USA, Argentinien, Brasilien und Portugal zurück nach London, und überall hat er sich mit Fußballfans die Spiele angeschaut. David Winner hat darüber ein Buch geschrieben. „Around the World in 90 Minutes“ ist eine kleine Kulturgeschichte über Unterschiede und Gemeinsamkeiten und die verbindende Kraft des Spiels.

In dieser Tradition ist die EM 2020 eine Abbildung dessen, was über den Fußball hinaus längst Wirklichkeit ist. Im Zeitalter grenzenloser und kostengünstiger Mobilität ist das Leben ein großes Groundhopping, ungewöhnlich ist nur die Ausgestaltung über mehrere Wochen. Für die Fußballfans der Neuzeit könnte die europäischste aller Europameisterschaft sein, was Interrail für die Jugend der Achtziger war. Damals war es eine revolutionäre und grenzüberschreitende Errungenschaft, einen Monat lang mit der Bahn durch ganz Europa zu fahren. Von Berlin über München bis Athen und weiter mit dem Schiff nach Brindisi, alle Fahrten mussten in einem schmalen und ganz und gar nicht fälschungssicheren Heftchen eingetragen werden – je mehr, desto besser.

Mal sehen, welche Billigfluglinie in sechs Jahren einen digitalen EM-2020-Pass herausbringen wird. Als Abnehmer dürften sich reichlich alte und neue Groundhopper finden.

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