zum Hauptinhalt

Sport: EM-Aus für Deutschland: Ein Mythos verblasst (Leitartikel)

In den 80er Jahren bescheinigte Oskar Lafontaine Helmut Schmidt einmal "Sekundärtugenden", mit denen man auch ein KZ leiten könne. Die Post-68er spotteten gerne über die deutschen Tugenden.

In den 80er Jahren bescheinigte Oskar Lafontaine Helmut Schmidt einmal "Sekundärtugenden", mit denen man auch ein KZ leiten könne. Die Post-68er spotteten gerne über die deutschen Tugenden. Das Preußische, Pflichtversessene, Ordentliche war langweilig, phantasielos und außerdem kontaminiert mit der Nazi-Vergangenheit.

Ähnlich verächtlich blickten die liberal gewordenen Bundesdeutschen auch gerne auf die deutsche Nationalelf, die meist trefflich das Modell Deutschland auf dem Rasen praktizierte. Selten schön anzuschauen, dafür erfolgreich, bewundert, aber ungeliebt im Ausland. Viel Disziplin, wenig Verspieltes.

Seit vorgestern müssen wir uns endgültig von diesem Bild verabschieden. Die Spiele gegen Rumänien und England hatten gezeigt: Sie können nicht mehr siegen. Seit dem 0:3 gegen Portugal weiß man: Sie wollten eigentlich auch nicht. Da schlenderte eine lustlose Truppe über den Platz, die nach dem 1:0 der Portugiesen am liebsten gleich in die Kneipe gegangen wäre. Kein Kampf, keine Disziplin. Lothar Matthäus, die Verkörperung des Debakels, übte schon mal für seine Zukunft als Trainer und schaute den deutschen Verteidigern dabei zu, wie sie sich ausspielen ließen.

In gewisser Weise ist die deutsche Elf damit auf der Höhe der gesellschaftlichen Entwicklung angekommen. Das Teutonische in uns ist schon seit gut dreißig Jahren auf dem Rückzug. Ein Volk von manisch fleißigen Arbeitern, korrekten Beamten, wachsamen Hausmeistern und knochenharten Fußballern hat sich in eine Fun-Gesellschaft verwandelt, in der jedermann auf seine Kosten kommen will. Der klassische deutsche Spießer, dem Disziplin über alles ging, schlendert nun in Jeans durch den Freizeitpark.

Der Zustand der deutschen Elf versinnbildlicht auch das Postnationale der Bundesdeutschen, ihr pragmatisches Verhältnis zur Nation. Früher war es für Spieler die höchstmögliche Ehre, für Deutschland zu spielen. Heute ist das, wie gesehen, anders. Es lohnt sich im Unterschied zu früher auch nicht mehr so richtig. Wer früher Nationalspieler war, verdiente mehr. Heute kann Effenberg lässig darauf verzichten - was zählt, ist der Erfolg in der Champions League.

Die Deutschen spielen schlechter - die anderen besser als früher. Weil Fußball immer internationaler wird, gleichen sich die nationalen Spielkulturen an. Auch Portugiesen und Rumänen können "deutsch" spielen, mit Kampf und solider Verteidigung. Wenn Schönspieler auch noch kämpfen, dann wird es für Nationen eng, die nur kämpfen können. Deshalb sind Deutschland und England draußen - Portugal und Rumänien weiter gekommen.

Nun verblasst ein nationaler Mythos. Dass die Nationalelf, dass wir oben mitspielen, symbolisierte seit 1954 die bundesdeutsche Erfolgsgeschichte. Die Nationalmannschaft repräsentierte den hart erkämpften und nach Arbeiterschweiß riechenden Aufstieg der Bundesrepublik. Damit ist es erstmal vorbei.

Jetzt werden hektisch Lösungen gesucht. Die Jugendarbeit muss besser werden, meinen viele. Doch die deutsche Jugend sitzt halt lieber vor dem Computer oder fährt Skateboard. Wer will sich schon von unwirschen Trainern über den Aschenplatz scheuchen lassen? Vielleicht ist die bundesdeutsche Gesellschaft ja einfach zu reich, zu vielgestaltig, zu individualistisch geworden für einen Kollektivsport wie Fußball. Wenn erprobte Selbstbilder verschwinden, geht das nie ohne Sentimentalität über die Bühne. Traurig ist es, zu ändern nicht.

Stefan Reinecke

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false