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Der Moment, nachdem Graziano Pellè das 2:0 gegen Spanien erzielt hat.

© Ian Langdson/dpa

EM-Viertelfinale Deutschland gegen Italien: Pellè, der Eroberer

Seine Mutter hoffte, dass er Tänzer wird. Sein Großvater wollte, dass er Fußball spielt. Also machte Graziano Pellè beides.

Der Fußball liebt seine Kalauer. Deshalb verfielen die sozialen Medien am Montagabend in Schnappatmung, als Kolbeinn Sightorssond das 2:1 für Island im EM-Achtelfinale gegen England erzielte. Und deswegen jauchzten die Fans vor Freude, als Italiens Pellè, ebenfalls am Montag, das 2:0 gegen Spanien erzielte.

An jenem Montagabend reichte ein Satz wie „Ich dachte, Pelé hätte seine Karriere beendet“, um bei Twitter oder Facebook virtuellen Applaus zu ernten. Natürlich ist der Verweis auf Pelé, „O Rei“, ehrenwert, und ein bisschen passt er auch, zumindest pflegt auch Pellè einen grazilen Spielstil. Er ist ein Sturmtank, der den Ball behutsam behandelt wie ein Copacabana-Jongleur. Trotzdem: Wenn man schon dabei ist, den Referenzkasten zu durchwühlen, würde sich eher Bille Augusts Film „Pelle, der Eroberer“ anbieten. In diesem Streifen von 1987 geht es um einen Jungen, der in ärmlichen Verhältnisse aufwächst, von anderen Dorfbewohnern verspottet wird und eines Tages den Entschluss fasst, in die große weite Welt aufzubrechen. Womit in etwa die Geschichte von Graziano Pellè umrissen wäre.

Sie beginnt 1985 in Monteroni di Lecce, einem kleinen Ort in Apulien. Pellè wächst in bescheidenen Verhältnissen auf. Auch er wird anfangs belächelt, denn er kommt nicht nur aus einer armen Familie, er tanzt auch noch. Während seine Klassenkameraden auf dem Bolzplatz die WM 1990 nachspielen, steht er auf dem Parkett.

Aber vielleicht ist das die Initialzündung für alles, was nun kommt. Denn bald lernt Pellè seinen Körper besser zu beherrschen, er stellt sich sogar so gut an, dass er als Elfjähriger gemeinsam mit seiner Schwester die italienische Jugendmeisterschaft in den lateinamerikanischen Tänzen gewinnt.

Gleichzeitig beginnt er auch das Fußballspielen, sein Großvater und sein Vater möchten es so. Einer mit dem Namen Pellè muss schließlich auf den Platz. In den Angriff. Tore machen. Und der Junge feiert auch hier Erfolge. Er schafft es sogar bald zu den Profis von US Lecce, und trotzdem glauben die wenigsten daran, dass er eines Tages die große Hoffnung der Squadra Azzurra sein wird.

Bei der EM hatte ihn niemand auf der Rechnung

In den ersten Jahren tingelt Pellè als Leihspieler unentwegt zwischen Klubs wie Crotone, Catania und Cesana hin und her. Tore schießt er kaum. Er denke zu sehr nach, heißt es. Er soll sogar, Schockschwerenot, Oscar Wilde lesen.

Mit 22 wagt Pellè den Schritt ins Ausland, zum AZ Alkmaar, wo er immerhin regelmäßig spielt. Ist er nun bereit für die Serie A? Ein neuer Versuch in der Heimat, FC Parma, zwölf Spiele, ein Tor. Was macht dieses Italien nur mit ihm? Es scheint kein Land für junge Angreifer zu sein, sondern eines der alten Schlachtrosse. 2012, Pellè ist bereits 27 Jahre alt, versucht er wieder einen Neuanfang und geht zu Feyenoord Rotterdam. Plötzlich läuft es. Er schießt 55 Tore in 66 Spielen. Aus dem schlaksigen Jungen ist ein 1,94-Meter-Riese geworden. Und dennoch schwebt er leichtfüßig über den Platz. Ein Tänzer im Körper eines Fußballers. Oder andersrum.

Sein Trainer, Ronald Koeman, ist begeistert, und als er 2014 zum FC Southampton geht, nimmt er Pellè mit. Hier kommt dieser zwar nicht an die Quote aus Holland ran, aber immerhin trifft er in jeder Saison zweistellig.

Und was macht Italien? Dort hat man ihn vergessen. Zumindest bis Antonio Conte, Italiens Nationaltrainer, Pellè im Oktober 2014 zu einem EM-Qualifikationsspiel nominiert. In seinem ersten Einsatz schießt er direkt den 1:0-Siegtreffer.

Bei der EM ist er einer von diesen Spielern, die niemand auf der Rechnung hatte. Zumal es auch zuletzt in England nicht gut lief, am Ende der Saison setzte Koeman ihn oftmals auf die Bank. Bei der EM klappt nun alles. Aber was heißt das schon? Vielleicht wird Pellè ein One-Hit-Wonder bleiben, einer, der mal zwei Tore in drei EM-Spielen schoss, einer, der nach dem Turnier wieder von der Bildfläche verschwindet. Einer wie Toto Schillaci, Torschützenkönig von 1990, der nach der WM schnell in Vergessenheit geriet.

Im besten Fall erlebt Pellè, mittlerweile 31 Jahre alt, am Samstag gegen Deutschland die Sternstunde eines goldenen Herbstes. Sollte er die DFB-Elf aus dem Turnier schießen, würden sie ihn zumindest in Apulien fortan „El Re de futbol“ nennen. Und das ist doch eine ganz schöne Aussicht.

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