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Sport: England lässt grüßen

Das WM-Fiasko zeigt: Der deutsche Handball hat sich selbst abgewirtschaftet

Es hatte ihnen die Sprache verschlagen. Bevor sich die deutsche Handball-Nationalmannschaft zu ihrer letzten Reise während der WM in Schweden aufmachte, zum trostlosen Spiel um Platz elf gegen Argentinien am heutigen Donnerstag in Kristianstad (17.50 Uhr, Sport1), verschanzten sich alle Spieler. Niemand wolle nach der historischen 25:35-Niederlage gegen Norwegen am Dienstag mit der Presse sprechen, erklärte der Pressesprecher des Deutschen Handball-Bundes (DHB), Karl-Bernd Hühnergarth. Das unprofessionelle Verhalten war der letzte Mosaikstein in dem desaströsen Bild, das der deutsche Handball in Schweden hinterließ.

„Der Ruf des deutschen Handballs hat in den letzten beiden Spielen gelitten“, sagte Heiner Brand. Erkennbar angeschlagen, heizte der Bundestrainer die Spekulationen über seinen Rücktritt an, zumal sein Team jetzt nur noch vage Chancen auf ein Teilnahme an Olympia 2012 in London hat. Der Gummersbacher erbat ein wenig Bedenkzeit. Geht es nach DHB-Vizepräsident Horst Bredemeier, wird sich jedoch gar nichts ändern, bis Brands Vertrag im Jahr 2013 ausläuft. „Es gibt keine Trainerdiskussion, und es gibt auch keine Personaldiskussion, weil wir kein anderes Personal haben“, sagte der Delegationsleiter des DHB in Schweden.

Auch Brand wies einmal mehr mit Sarkasmus auf die dünne Personaldecke hin. „Wenn ich einen Spieler nachnominieren muss, dann muss ich erst mal in der Handballwoche nachschauen, ob ich dort noch einen finde“, sagte der 58 Jahre alte Gummersbacher nach der Schmach von Jönköping. Seit Jahren rügt Brand die Bundesligisten dafür, dass sie so wenige deutsche Spieler einsetzen. Speziell für den Rückraum, also den zentralen Mannschaftsteil, der die Spiele im modernen Handball gewinnt, muss Brand geeignetes Personal in der Tat mit der Lupe suchen.

Diese Positionen werden bei den vier Spitzenklubs HSV Hamburg, THW Kiel, Füchse Berlin und den Rhein-Neckar Löwen von Legionären aus Frankreich, Island, Ungarn, Dänemark und Schweden besetzt – alles Nationen, die nun bei der WM vor Deutschland rangieren, obwohl der DHB mit mehr als 800 000 Mitgliedern den größten Verband der Welt darstellt und die Bundesliga als beste Liga der Welt gilt. Von den etwa 25 Profis, die im Rückraum dieser vier Klubs spielen, stammen nur fünf aus Deutschland.

Die Lage ist eine Folge des Bosman-Urteils von 1995, das europaweit Beschränkungen für ausländische Spieler aufhob. Die Probleme im deutschen Handball erinnern an die Situation der englischen Premier League, die im Fußball als beste Liga der Welt gilt. Auch dort besetzen ausländische Profis die Schlüsselpositionen in den führenden Klubs, worunter die englische Nationalmannschaft erkennbar leidet. Denn auch dort versagen die englischen Nationalspieler bei großen Turnieren in kritischen Lagen, weil sie in diesen Situationen im Alltag ihrer Klubs selten Verantwortung übernehmen müssen.

Die beste Mannschaft, die Brand coachte, war die „Goldene Generation“, die von 2002 bis 2004 bei großen Turnieren viermal nacheinander ins Finale einzog. Diese Generation hatte noch vor dem Bosman-Urteil ihre ersten Erfahrungen in der Bundesliga gesammelt. Der Weltmeistertitel von 2007 in Deutschland war im Grunde der letzte Ausläufer dieser Generation, personifiziert durch den damals 37 Jahre alten Kreisläufer Christian Schwarzer, dessen Nachnominierung während des Turniers erst die nötige Sicherheit brachte. Inzwischen zeigt sich, dass der WM-Titel das Ausmaß der Probleme nur verschleiert hat.

Die neue personelle Lage stellt den deutschen Handball vor ein Dilemma. Eine Mindestquote für deutsche Spieler in der Liga ist aus arbeitsrechtlichen Gründen nicht durchsetzbar, und die Klubs, die sich zwar in ersten Reaktionen durchaus selbstkritisch gaben und Brand den Rücken stärkten, lehnen sie auch mehrheitlich ab. „Dadurch werden die deutschen Spieler nicht besser, sondern nur teurer“, sagt Löwen-Manager Thorsten Storm. Füchse-Manager Bob Hanning schlägt eine Selbstverpflichtung der Bundesligisten vor, nach der „mindestens drei bis vier deutsche U-23-Spieler auf dem Spielberichtsbogen stehen müssen“.

Vielversprechende Jungprofis gibt es ja. Etwa den 20 Jahre alten Kreisläufer Patrick Wiencek aus Gummersbach, der mit den deutschen Junioren 2009 Weltmeister wurde. Doch die Talente haben es schwer, in der Bundesliga den Übergang zum Profi zu schaffen. Ob sich nach dem Desaster von Schweden etwas grundsätzlich ändert an der bedrohlichen Lage, ist jedoch mehr als fraglich. Die deutsche Nationalmannschaft, das Aushängeschild des deutschen Handballs, geht schweren Zeiten entgegen.

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