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Entscheidung des IOC: Ringen in Rückenlage

Gelassenheit trotz Ehrgeiz, das lehrt dieser Sport. Und doch können die Ringer kaum fassen, dass ihr Zweikampf in Zukunft nicht mehr olympisch sein soll. Am Stützpunkt in Luckenwalde suchen sie nun nach dem Gewicht der Tradition.

Jedes Jahr im Januar macht Helmut Börner die immergleiche Beobachtung: Er sieht im Fliederweg 1 in Luckenwalde das gute Benehmen erwachen. Den Anstand, stets verlässlich wiederkehrend nach zirka viereinhalbmonatiger Abwesenheit, wie er sich auf den Stufen zu einem verwinkelten Gebäude hinauf versammelt und auf den Steinplatten vor der Eingangstür. Er tut dies in der Gestalt von 13-Jährigen.

Sie warten hier jeden Tag aufeinander, bevor sie grüppchenweise ins Haus gehen. Sie stehen herum und im September, Oktober, November, Dezember anderen Hausbesuchern wie Börner mitten im Weg. Aber dann, im Januar, nach einem knappen halben Jahr täglichen Zugegenseins im Fliederweg, fangen sie an, beiseitezutreten. Sie hören auf, die Tür zu blockieren. Manchmal heben sie sogar den Blick.

Börner ist sich sicher, dass dies damit zusammenhängt, was in diesem Haus vor sich geht. Dass dieses Haus eine Zivilisierungsmaschine beherbergt. Sie produziert Rücksichtnahme und Respekt. Vor allem aber: Ringkämpfer. Das ist ihr eigentlicher Zweck, dafür ist sie einst geschaffen worden. Sie heißt 1. Luckenwalder Sportclub.

Möglicherweise sind die Tage dieser Maschine nun gezählt. Grund dafür ist eine am Dienstagmittag der vorvergangenen Woche verkündete Entscheidung des Führungsgremiums des Internationalen Olympischen Komitees. Es empfahl – so war die Wortwahl – bei einer Zusammenkunft in einem Lausanner Hotel, dass Ringen vom Jahr 2020 an nicht mehr zu den olympischen Sportarten gehören solle. Im September entscheidet schließlich die IOC-Vollversammlung verbindlich. Die noch anstehende Entscheidung sei, so sagen es mit den Gepflogenheiten der Olympia-Organisatoren Vertraute, nur noch Formsache. Das Ringen sei draußen.

Seit 1896, den ersten Olympischen Spielen der Neuzeit, war die Sportart dabei. Im Jahr darauf fand in einem Luckenwalder Restaurant die Gründungsversammlung des 1. Luckenwalder Athletenclubs Adler 1897 statt. Die Nachfolgevereine hießen Sportclub für Schwer- und Leichtathletik, Luckenwalder Kraftsportvereinigung 1897, Motor Luckenwalde. 1953 schlossen sich die Motor-Ringer der Sportgemeinschaft Dynamo Luckenwalde an und 1963 kam Börner. Länger als er ist keiner hier.

Luckenwalde in Brandenburg, auf halbem Weg zwischen Berlin und Wittenberg gelegen, ist ein Ringerparadies. So wie das rheinland-pfälzische Schifferstadt eines ist oder Aalen in Baden-Württemberg oder Köllerbach im Saarland. Vergleichsweise kleine Ortschaften sind es meist, mit deren Namen in der weiten Welt kaum etwas verbunden wird, mit Luckenwalde vielleicht am ehesten noch Rudi Dutschke, der stammt von hier. In der Welt des Sports aber sind diese Namen längst Synonyme geworden für die jeweils ansässigen Ringervereine.

Börner, ein stattlicher Mann vom Jahrgang 1939 und mit freundlichem, rundem Gesicht, sitzt im Besprechungszimmer des Klubs am Fliederweg und sagt: „Was sich für das Ringen als tödlich erwiesen hat, war die letzte Veränderung im Regelwerk.“ Es klingt, als hätte er das Unheil von Lausanne kommen sehen. Dabei ist er genauso davon überrascht worden wie der ganze weltweite Rest der Ringergemeinde. Und wie sie ist Börner immer noch dabei, sich zu sortieren. Ihm fällt jetzt gerade nicht ein, wann genau das war, das mit der letzten Regeländerung, was aber auch daran liegt, dass es alle paar Jahre solche Regeländerungen gibt. Gemacht werden sie vom Weltverband, und eigentlich waren die Korrekturen aus der jüngsten Vergangenheit vor allem dazu gedacht, Ringkämpfe schneller, die Ringkämpfer aktiver und das Ringen an sich für das Publikum ansehnlicher zu machen. Bewirkt haben sie allerdings das Gegenteil. Kaum jemand, der kein Fachmann ist, kann diesen Regeln noch folgen, und auf der Matte waren zunehmend keine spektakulären Kämpfe mehr zu sehen. Zu sehen war oft nur noch Geschiebe.

Die Ringerwelt ahnte vor dem IOC-Beschluss nichts

Dass nun mittlerweile bei nationalen und internationalen Wettkämpfen unterschiedliche Reglements gelten, bei Turnieren, in denen Einzelkämpfer gegeneinander antreten und Mannschaftskämpfen ebenso – und dazu noch traditionell nach griechisch-römischem und freiem Stil unterschieden wird –, sagt eigentlich schon alles.

Börner war 24, als er nach Luckenwalde kam. Er stammt aus dem Vogtland und hatte eigentlich vor, Förster zu werden. Er war das auch ein Jahr lang. Weil man aber bald feststellte, dass es in der DDR zu wenig Wald für all die alten und neu ausgebildeten Förster gab und Börner nach Schulabschluss, Facharbeiterlehre und dem einen Jahr unter Bäumen immer noch ein sehr junger, gerade einmal 17 Jahre alter Mann war, wurde er nach Leipzig auf die Arbeiter- und Bauernfakultät geschickt, zur Erlangung der Hochschulreife, und anschließend auf die Deutsche Hochschule für Körperkultur nebenan. Dort erst, bei seiner Trainerausbildung, kam er aufs Ringen.

„Ringen war mehr ’ne Volkssportart damals“, sagt Börner. Ein Sport der kleinen Leute, Loyalität habe eine große Rolle gespielt, „das war ein ganz spezielles Milieu“, sagt Börner. So erklärt er sich heute auch, dass man ihn in den Westen reisen ließ. Nach Italien zum Beispiel, zum Unterrichten, aber das sei ohnehin gar nicht so wichtig für ihn gewesen. Wichtig war eine zwei Wochen lange Reise nach Osten, nach Tbilisi in Georgien, in die damalige Sowjetrepublik, Anfang der 70er.

„Die hatten dort Unterricht an der Tafel“, sagt Börner. „Die mussten Technikmodelle entwickeln. Das war uns neu.“ Am Ende des Unterrichts wurde den Schülern ein Griff gezeigt. Die Hausaufgabe bis zur nächsten Woche bestand dann darin, eine Reaktionsmöglichkeit auf diesen Griff zu finden, und zwar eine, die nicht in den Lehrbüchern stand. Ringen, das lernte Börner in Tbilisi, war ein Sport für den Kopf. Wer ihn ausübt, der sollte denken können, vorausdenken.

Trotzdem ahnte die Ringerwelt von der Entscheidung in Lausanne nichts. Zu den Ersten, die danach wieder einigermaßen handlungsfähig waren, gehörten der SPD-Bundestagsabgeordnete Peter Danckert und die Bundestagsaspirantin Tina Fischer, SPD-Direktkandidatin im Luckenwalder Wahlkreis. Sie schrieben am Tag nach der IOC-Entscheidung einen Brief an Thomas Bach, den Präsidenten des Deutschen Olympischen Sportbundes.

„Sehr geehrter Herr Präsident, mit großer Bestürzung ... Wir bitten Sie ... Sportart mit langer olympischer Tradition ... auch die Stadt Luckenwalde mit dem Bundesstützpunkt für Freistil-Ringen ... seit vielen Jahren eine Erfolgsgeschichte ... Verein mit über 450 Mitgliedern und einer sehr erfolgreichen Jugendarbeit, ergänzt durch das Angebot der Eliteschule vor Ort ... Sportart in der Region fest verwurzelt ... Wir bitten Sie daher eindringlich ... Mit freundlichen Grüßen“.

Der Protest ist mittlerweile ein weltweiter. Wladimir Putin verfügte die Gründung einer Arbeitsgruppe, die das Ringen zurück zu Olympia bringen solle. Mit demselben Ziel gingen die USA und Iran eine Allianz ein. Ein bulgarischer Olympiasieger gab seine Medaille zurück. Der amerikanische Schriftsteller John Irving, der sich neben seinem Schreibzimmer einen Ringerraum eingerichtet hat, schimpfte in der „New York Times“, „hinterhältig“ sei die IOC-Entscheidung gewesen. Unisono mit Börner macht er den Ringer-Weltverband und dessen letzte Regeländerungen dafür mitverantwortlich. Das schlagendste Argument der Ringsport-Verteidiger gegen den IOC-Vorwurf, der Sport sei unattraktiv und langweilig, lautet aber fast immer: die Tradition. Man könne doch so eine Tradition nicht einfach beenden, die habe doch Gewicht.

Das stimmt ja auch. Im sumerischen Gilgamesch-Epos kommt das Ringen vor, in der griechischen Mythologie ebenso. Herkules war ein Ringer. Es spricht viel dafür, dass auch Pythagoras und Platon und Aristoteles rangen, und die Kelten und die Germanen taten dies auch. Zur olympischen Sportart wurde das Ringen im Jahr 708 vor Christus.

"Nichts ist gymnastischer als Ringen", sagt der Trainer

Viele der schriftlichen Überlieferungen verweisen auf die erzieherische Kraft des Ringens. Erklärt wird sie zwar kaum, dafür umso öfter einfach behauptet. Börner, der Erfahrene, reimt sie sich so zusammen: „Die Auseinandersetzung mit dem Gegner ist hier eben anders als in anderen Sportarten“, sagt er, „anders als beim Laufen zum Beispiel.“ Man verliere anders, nämlich oft unter Schmerzen. Die Siebtklässler, die jedes Jahr Anfang September ans Luckenwalder Ringer-Internat kämen, die heulten dann. „Aber allmählich lernen die hier, damit umzugehen.“

Sie lernen, ihre Wut zu unterdrücken und den Kampfrichter als Respektsperson zu sehen, denn jeder Regelverstoß hat unweigerlich Konsequenzen. „Wer Regeln bricht“, sagt Börner, „fliegt von der Matte.“ Und irgendwann nach den ersten viereinhalb Monaten komme es dann eben auch zu dem Phänomen draußen vor der Vereinstür. Ungefähr zeitgleich ändere sich auch der Ton der jungen Leute. „Wenn die dann von ihren Siegen erzählen, dann tun die das ohne Überheblichkeit. Und wenn sie verloren haben, dann hört man: Die haben auf ihren Gegner keinen Hass.“

Was man hier also lerne, sei Gelassenheit trotz Ehrgeiz. Börner ist selbst so ein Gelassener. Ein leiser Mann, der große Worte ausspricht, aber ohne die geringste Spur von Sendungsbewusstsein. Das Lauteste hier im Raum sind die Ausrufezeichen an der Wand. Ein selbst gebasteltes Plakat hängt da, mit ausgeblichenen Fotos drauf. Jungen beim Ringen, Jungen beim Medaillenbekommen, Jungen beim Training. Zwischen den Bildern kleben Losungen. „Ringen = ein Sport für Kinder!“ „Nichts ist gymnastischer als das Ringen!“

Warum aber sollte das alles in Gefahr sein? „Na ja, Fördergeld“, sagt Börner, „das hängt doch zum guten Teil an Olympia.“ John Irving, der ringende Schriftsteller, sieht das genauso. Und im Bittbrief an den DOSB-Chef Bach steht: „Gerade die großartige Perspektive, eine olympische Sportart auszuüben und bei entsprechenden Leistungen an den Spielen teilnehmen zu können, hat ... vor allem den Sportlerinnen und Sportlern zusätzliche Motivation gegeben. Sollte Ringen ab 2020 nicht mehr Teil des olympischen Programms sein, entfällt diese zusätzliche Motivation.“

Einer der potenziell Demotivierten sitzt gerade mit seinem Trainer im Nebenzimmer. Er heißt Nick Matuhin, ist 22 Jahre alt, 198 Zentimeter groß und 125 Kilogramm schwer. Ein riesiger Feuerwehrmann in Ausbildung und Luckenwalder Leistungsträger. Seine Stärken sind: lange Arme, große Hebel, explosiv im Angriff. Er war im Sommer bei Olympia in London dabei und ist 17. geworden.

Die beiden Männer schauen auf einen Computerbildschirm, sie sehen sich einen Matuhin-Kampf an. Sie sehen zwei umeinandergewickelte, ineinander verflochtene Menschenkörper. Zwei Menschenkörper, die sich gegenseitig Schmerzen zufügen. Sie liegen eine ganze Weile einigermaßen regungslos da, und es ist davon auszugehen, dass zur gleichen Zeit in ihren Köpfen irgendetwas vorgeht. Irgendeine Mischkalkulation, ein gedankliches Durchspielen möglicher Griffe, Schleuder- und Herauswindtechniken, alle jeweils mit dem zusätzlichen Schmerz gegenzurechnen, den sie bei einem selbst verursachen würden. Ringen heißt, sich zu überwinden. Vor allem dann, wenn die Lage aussichtslos scheint.

Am Dienstag der vorvergangenen Woche saßen Matuhin und sein Trainer gerade beim Essen, in einem Imbisslokal beim Bahnhof, als das Telefon klingelte. Matuhins erster Gedanke nach jenem Anruf: „Scheiße.“ Mittlerweile aber beherrscht ihn wieder die ringertypische Umsicht, er sagt: „Für die Jüngeren ist es noch bitterer. Ich weiß ja wenigstens schon, wie Olympia so ist.“ Es sind zwei sehr generöse Sätze. Übersetzt bedeuten sie: Dabei sein war alles.

Dieser Text ist auf der Reportage-Seite erschienen.

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