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Sport: Erinnerungen in Ruinen

Der 1. FC Magdeburg gewann als einziges DDR-Team den Europapokal. Eine Spurensuche 30 Jahre später

Magdeburg. Es duftet nach frisch gemähtem Rasen. Aber sonst? Das Ernst-Grube-Stadion, Baujahr 1954, ist eine aktive Ruine. Hier wird tatsächlich noch Fußball gespielt. Vier rostige Stahlträger lassen ihre Flutlichtköpfe hängen. Die große Anzeigetafel sieht jämmerlich aus. Tiefe Risse durchziehen ihre Fassade wie Adern, die Farbe blättert ab. Die ungarische Firma Videoton hat sie 1978 installiert. Ersatzteile gibt es keine mehr. Die kleinen Lämpchen haben den Geist aufgegeben. Oder sind es doch die Relais? Man hat einfach Reklame drübergeklebt, „Schierker Feuerstein“, ein Schnaps aus der Region. Das Stadion ist fertig. Kein Leuchten, kein Funkeln mehr. Der Rest ist Geschichte. Die Geschichte des 1. FC Magdeburg, der erfolgreichsten Mannschaft des DDR-Fußballs.

Magdeburg hat eine recht ordentliche Handball-Mannschaft und Bürger, die in Ermangelung wirklicher Helden den Westdeutschen Sven Ottke zum besseren Ostdeutschen umfunktionierten. Hier startete die Karriere des Boxweltmeisters, und hier endete sie vor wenigen Wochen. Ottke trat als Champion ab – ungeschlagen. Zurück blieb eine angeschlagene Stadt. 200 000 Einwohner hat Magdeburg. Die Arbeitslosenquote liegt bei knapp unter neunzehn Prozent. Magdeburg liegt an der innerdeutschen Schnittstelle, aber Frontstadt wie Berlin war sie nie. Magdeburg hat nichts Schrilles, Lautes, Spannendes. Magdeburg wirkt wie aufgesogen vom Bördeland ringsum. Die Stadt wirkt ein bisschen wie versunken, versunken wie ihr großer Fußball.

Am Samstag kommt noch einmal die Vergangenheit zurück. Es wird keine dieser heißen Europapokalnächte wie vor 30 Jahren. Am 8. Mai 1974 schlug der 1. FC Magdeburg den AC Mailand in Rotterdam mit 2:0 und wurde der erste und letzte Europapokalsieger der DDR. Diesen Samstag kommt der Hallesche FC, ein halbwegs guter Name aus halbwegs guten, alten Tagen der DDR-Oberliga. Auch der HFC hat es nicht geschafft in den 14 Jahren seit der Wende. So wie Dresden nicht, wie Jena, Erfurt oder Leipzig. Der VfB war 1903 erster Deutscher Meister. Jetzt ist der Traditionsverein bankrott. In den kommenden Tagen wird der VfB Leipzig aus dem Vereinsregister gestrichen.

Dieses Schicksal ist dem 1. FC Magdeburg erspart geblieben. Sonst aber hat der Verein an Rückschlägen nichts ausgelassen: Spielerausverkauf, Schulden, Chaos, Insolvenz, ein marodes Stadion. Ein Dutzend Trainer ist verschlissen worden, sieben Präsidenten mussten gehen. Was soll’s? Man muss die Feste feiern, wie sie fallen. Heute werden 1974 bunte Luftballons aus Kinderhänden in den Himmel steigen. An jedem Ballon wird ein Namenskärtchen befestigt sein, auf dem für einen Neubau des Stadions geworben wird. Sogar Franz Beckenbauer wollte kommen, musste aber kurzfristig nach Kuala Lumpur. Malaysia statt Magdeburg.

Viertel nach eins steigt der historische Kick. Die DDR-Nationalmannschaft von 1974 trifft auf den Cupsieger von 1974. „2 x 30 min“, wie es im Programmheft steht. Sind ja betagte Herren. „Unser einziges Pfund ist die Tradition“, sagt Martin Hoffmann. Hoffmann war damals 20 und ein hervorragender Linksaußen. Er war in Rotterdam gegen Mailand dabei und sechs Wochen später in Hamburg, beim 1:0-WM-Sieg der DDR über die Bundesrepublik. „Ich will das mit der Tradition nicht überbewerten, aber ohne diese Tradition würde es den 1. FCM nicht mehr geben“, sagt Hoffmann. Er ist Chefscout des Klubs und kümmert sich um den Nachwuchs. Vor dreieinhalb Jahren war er noch Trainer. Damals warf der 1. FC Magdeburg den FC Bayern München aus dem DFB-Pokal. Es war ein Aufflackern vergangener Tage, mehr nicht.

Der 1. FCM wartet auf eine Perspektive. „Die Menschen hier warten auf erfolgreichen Fußball in einem neuen Ambiente“, sagt Klubchef Ingolf Nitschke. Am 10. Juni soll über den Neubau des Stadions entschieden werden. Zwei Firmen aus dem westdeutschen Raum haben sich um den Auftrag beworben. „Mit einem neuen Stadion würden unsere Bemühungen eine ganz andere Dynamik bekommen“, sagt Nitschke. Er sitzt in der Geschäftsstelle des Vereins in einem schmucklosen, zweigeschossigen Zweckbau. Drei hauptamtliche Mitarbeiter und drei ABM-Kräfte leistet sich der Verein. Vor zwei Jahren musste der 1. FCM in die Insolvenz, wegen sieben Millionen Euro Schulden. Vor einem Jahr wurde der Verein aus der Insolvenz entlassen. „Unsere Bücher sind jetzt wieder sauber“, sagt Nitschke. „Wir haben keine Altschulden mehr, aber wir stehen auch mit leeren Händen da.“

Kaffee gibt es in der Vereinsgaststätte, die heute „Croc.o.Deal“heißt. Das Zigeunersteak mit Pommes kostet drei Euro fünfzig. Die Gardinen sind in den Vereinsfarben Blau-Weiß gehalten. Ein Wimpel kündet vom berühmtesten 8. Mai, den Magdeburg seit dem Tag der Befreiung vom Faschismus erlebte. An jenem Tag vor 30 Jahren schlug der Außenseiter aus der anhaltinischen Provinz den Weltklub Mailand. Kurz vor dem Spiel in Rotterdam hatte der Magdeburger Trainer Heinz Krügel seinen Spielern in der Kabine einen Artikel aus dem westdeutschen „Kicker“ vorgelesen. Mailands Trainer Giovanni Trapattoni hatte prophezeit: „Wer das erste Tor schießt, gewinnt.“ Das erste Tor schossen die Mailänder, nur war es ein Eigentor. Später erzielte Axel Tyll den Treffer zum 2:0-Endstand. Es war damals eine Sensation, eine, die sich für den DDR-Fußball nicht wiederholen sollte.

Heute spielt der 1. FCM gegen Auerbach oder Dresden-Laubegast in der vierten Liga. Der Etat liegt bei deutlich unter einer Million Euro. „Wir müssen das Porzellan zusammenkitten“, sagt Präsident Nitschke. „Wir wollen Vertrauen schaffen bei den Anhängern und bei den Sponsoren.“ Die meisten Sponsoren wanderten während der Insolvenz ab zum SC Magdeburg, zu den Handballern aus der neuen Bördelandhalle auf der anderen Straßenseite. Die haben einen Etat von drei Millionen, spielen regelmäßig im Europapokal, haben als einziger deutscher Klub schon die Champions League gewonnen und waren vor drei Jahren Deutscher Meister. „Wir leben aber hier in einer Fußball-Region“, sagt Nitschke trotzig. „Wenn wir sportlich wieder etwas zu bieten hätten, würden sie wieder kommen.“

Nitschke ist 39 Jahre alt. Auf die Frage, wo er an jenem 8. Mai vor 30 Jahren war, antwortet er: „Ich war als kleiner Trommler mit dem Bezirksmusikorchester unterwegs. Das Ausmaß des Erfolgs der Fußballer war mir gar nicht so bewusst.“ Es wurde ihm später bewusst, als Mitarbeiter im Schwermaschinenbau-Kombinat Ernst Thälmann, kurz „Sket“ genannt. Das Kombinat mit seinen einst 30 000 Mitarbeitern war damals der Hauptsponsor des Fußballklubs. Der Zusammenbruch der Schwerindustrie nach der Wende ruinierte in Magdeburg mehr als nur den Fußball. Fast ein Viertel der Einwohner verlor die Arbeit. Heute beschäftigt der Sket-Nachfolger MAB 380 Angestellte.

Am 13. Juni stehen Kommunalwahlen an – drei Tage nach der Entscheidung in der Stadionfrage. Die SPD hat es zum Wahlkampfthema gemacht. „Neues Stadion nur mit uns“, steht auf den Plakaten am Straßenrand. Der Investitionshaushalt der Stadt für die kommenden vier Jahre beträgt 400 Millionen Euro. 30 Millionen soll das Stadion kosten, wenn es denn gebaut wird. Die Hälfte würde die Stadt zahlen, sagt Rüdiger Koch, der Sportdezernent der Stadt. „Das ist im städtischen Haushalt gelistet.“ Magdeburg muss sparen. Seit Herbst des vergangenen Jahres bleiben die Straßenlaternen an der Magistrale quer durch die Stadt dunkel. Damit, heißt es im Rathaus, hätten sich die Bürger klaglos abgefunden.

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