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Sport: "Erst die Leistung, dann das Geld - das ist aktive Sterbehilfe"

BERLIN .Märchen fangen an mit "Es war einmal .

BERLIN .Märchen fangen an mit "Es war einmal ...".Und sie enden im Normalfal mit einem Happy end.Im deutschen Frauenturnen ist ein Märchen wegen des klassischen Ausgangs nicht annähernd in Sicht, obwohl andererseits allein nostalgische Erinnerungen verhindern, den hiesigen Vertreterinnen des Fachs nicht ganz die Eignung für das selbige abzusprechen.Sage und schreibe 52 Medaillengewinnerinnen bei Olympia, WM, EM und Weltcup - aber 1988 bei den Spielen in Seoul war mit Mannschaftsbronze durch die DDR-Riege und Silber am Stufenbarren durch die Berlinerin Dagmar Kersten Schluß mit Lustig.Zehn Jahre dauert nun schon die Edelmetall-Durststrecke.In den 90er Jahren waren nicht mal mehr einstellige Plazierungen in internationalen Wettbewerben drin.

Bei den Olympischen Spielen in Atlanta vertrat allein die jetzt 19jährige Yvonne Pioch (SC Berlin) den Deutschen Turner-Bund (DTB).Die danach erfolgte Sportarten-Einordnung durch den Deutschen Sport-Bund (DSB) nach erbrachten Leistungen verfrachtete das Frauenturnen in die Förderstufe IV, der nur noch eine ganz unten folgt."Das bedeutet, daß im Grunde nur noch Geld für den Nachwuchs vorhanden ist, aber zum Beispiel keine Bundestrainer mehr bezahlt werden können", sagt Steffen Gödicke, der für die Berliner Turnerinnen zuständig ist.Als Bundestrainer wohlgemerkt, weil mit Mischfinanzierungen und speziellen Förderaktionen nach der Pleite in den 90er Jahren versucht wurde, wenigstens mit dem Streben nach mittelfristiger Veränderung einen Funken Hoffnung für die einst mit Namen wie Radochla, Zuchold, Janz, Kräker, Gnauck oder Thümmler geschmückte Sportart am Glimmen zu halten.

Gödicke, seit 1979 in der Branche tätig, weiß, daß der Countdown für seine Sportart läuft."Sein oder Nichtsein, das trifft die Situation", stellt er fest.Bei der EM im Mai in St.Petersburg ist die deutsche Riege, die ausschließlich aus Berlinerinnen bestand, Zehnte geworden und handelte sich dafür Kritik vom Verband ein.Daß es der erste Teamwettbewerb nach zweieinhalb Jahren war, daß nach vielen hausgemachten Irritationen im DTB um den Stellenwert des Frauenturnens ganz allgemein, um Altersbeschränkungen und Trainerabbau endlich eine erste Standortbestimmung stattfand, wurde im nationalen Verband schlicht außer acht gelassen.

Steffen Gödicke ist Angestellter selbiger Organisation und mithin diplomatisch in seinen Äußerungen, aber daß "mit weniger Trainern und sehr zurückhaltender Förderung ein internationaler Vorderplatz möglich sein soll", das stellt er in Frage.

Die Schelte nach der EM - Gritt Hofmann und Yvonne Pioch belegten die Ränge 14 und 15 im Mehrkampf - richtete sich zudem gegen jenen Stützpunkt, der in Deutschland im Grunde als einziges Leistungszentrum übriggeblieben ist.Gödicke & Co.mühen sich, den Abwärtstrend aufzuhalten.Größter Gegner ist dabei die Zeit.Nur ein knappes Jahr bleibt - Urlaub, Ferien und andere Ausfälle dazugerechnet - zur Korrektur.Bei der WM im Oktober 1999 in China muß das deutsche Team einen Platz unter den Top 12 erreichen, um sich für die Olympischen Spiele 2000 in Sydney zu qualifizieren.

"Wie schwer das wird, ist aus EM-Rang 10 hochzurechnen, denn es kommen dort noch einmal vier, fünf starke Mannschaften dazu." Gödicke ist deshalb wenig begeistert, wenn schon heute Stimmen im DTB laut werden, die sogar eine interne Verschärfung der Norm für Sydney verlangen, und Platz acht zur olympischen Voraussetzung erheben wollen."Das könnte im Endeffekt das Aus für eine ganze Sportart bedeuten, denn ohne Olympiateilnahme sinken wir noch weiter in den finanziellen Förderkeller und dann wäre wohl auch die Regelung mit den Bundestrainern nicht mehr haltbar."

Die Argumente des 43jährigen Turnlehrers gegen solch rigide Praxis überzeugen vor allem durch ihre Ehrlichkeit."Wir sind in Europa derzeit etwa auf Platz neun, können mit unseren Übungen noch nicht die Ausgangswerte anbieten, mit denen man international wenigstens halbwegs konkurrenzfähig ist.Das haben uns die Kampfrichter in St.Petersburg deutlich wissen lassen.Wobei gerade auchin der Benotung deutlich wurde, wie sehr uns die zweijährige Abstinenz geschadet hat.Wir haben keine Lobby." Gödickes Schlußfolgerung ist dennoch nicht pessimistisch, eher kämpferisch."Wir müssen die Übungen aufstocken und bis zur WM an möglichst vielen Wettbewerben teilnehmen, um international präsent zu sein." Gödicke hat sein Amt als Leitender Bundestrainer an Dieter Koch (Bergisch-Gladbach) abgetreten, um mehr Zeit zu haben, seine Turnerinnen auf den vielleicht entscheidenden Auftritt ihrer Karriere vorzubereiten.Mit Yvonne Pioch, in München überlegen Mehrkampf-Meisterin geworden, Vizemeisterin Grit Hofmann, der DM-Dritten Katrin Kewitz, Samira Jaeger (4.), Stefanie Mahncke (7.) und Katja Abel (Meisterin der Altersklasse 15) sowie weiteren Talenten vom SCB, TSC und SV Preußen verfügt Berlin gleich über mehr als ein halbes Dutzend Turnhoffnungen.

Gödicke weiß jedoch: "Man muß etwas investieren, wenn man aus der Senke raus will.Darauf zu warten, daß erst die Leistung da ist und dann das Geld kommt, ist aktive Sterbehilfe." Für die Weltmeisterschaften im Oktober 1999 in China gibt es - überspitzt formuliert - nur zwei Möglichkeiten: Sein oder Nichtsein.Oder existiert für das deutsche Frauenturnen doch noch irgendein Mittelweg?

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