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Sport: „Es knallt an allen Ecken“

Fecht-Weltmeisterin Heidemann studiert Sinologie, ging in Peking zur Schule und trainierte in China. So sehr sie einiges im Land erschreckt, so sehr bittet sie auch um Verständnis für den Wandel

Frau Heidemann, Sie haben eine tiefe emotionale Beziehung zum traditionellen China. Aber in Peking landen Sie auf einem Flughafen, der sich nicht vom Frankfurter Airport unterscheidet. Und dann fahren Sie in eine verwestlichte Metropole. Wann spüren Sie denn zum ersten Mal, dass Sie wirklich in China sind?

Nicht in Peking. Komplett verzaubert von der Atmosphäre und der Kultur wurden meine Familie und ich bei meinem ersten China-Besuch. Da waren wir im Süden unterwegs, in einer der schönsten Gegenden von China, mit Kegelbergen und Reisfeldern und traditionellen Spitzhüten. Da habe ich dieses alte, dieses echte China kennen gelernt.

Vom alten China werden Sie in Peking nicht mehr viel entdecken.

Ich kann nur über das Zentrum sprechen, und das hat sich immens verändert. Nach meinem ersten Peking-Besuch habe ich meinen alten Schulweg nicht mehr wieder erkannt. Dort sind einfach ganze Stadtviertel abgerissen worden.

Und wie sehr verändert so ein Stadtbild die Mentalität der Menschen?

Die jungen Chinesen übernehmen gerade den westlichen Freizeitstil. Schick einkaufen ist sehr in. Und dann die vielen neue McDonald’s- und Burger-King-Läden und Diskotheken, unglaublich. Und trotzdem: Peking hat 13 Millionen Einwohner, ich bin sicher, dass Millionen Menschen von diesem Wandel noch nicht betroffen sind.

Die stehen dann eher befremdet vor Starbucks und Malls?

Die gehen in die Einkaufszentren, aber sie passen eigentlich nicht wirklich in diese Welt. Die sind damit überfordert.

Gibt es eine Art Grenze, an der diese Weltbilder krass aufeinander treffen?

Ein großes Problem ist schon die Individualisierung. China basierte auf einem funktionierenden Familiensystem. Die Jüngeren versorgen die Alten. Aber in China gerät dieses System ins Wanken, weil es eine riesige Wanderarbeiterbewegung gibt. Diese Wanderarbeiter sind jetzt nicht bloß von ihrer Familie getrennt, sie ziehen auch vom Land in eine große Stadt, in eine völlig neue Welt. Dazu kommt, dass junge Leute, die in der Stadt aufgewachsen sind, in eigene Wohnungen umziehen. Bisher war es üblich, dass man bis zur Heirat bei den Eltern wohnt. Da gibt es große soziale Probleme.

Inwieweit fängt die Regierung diese sozialen Probleme ab?

Durch neue Ansätze zur Sozialpolitik. Die Altersvorsorge wird verbessert, Krankenversicherung ist ein großes Thema. In China ist der soziale Unterschied zwischen Stadt und Land ein Riesenproblem. Durch die neue Marktwirtschaft verfallen die alten Sicherungssysteme. Es gibt deshalb verschiedene Modelle für Städte und für Landbewohner und entsprechende Versicherungen. Das Hauptproblem sind ja nicht fehlende Gesetze, die Regierung hat da ja einiges getan. Aber China ist durch die 30 Provinzen wahnsinnig dezentral organisiert. Es ist superschwierig, diese Gesetze in allen Kreisen und Bezirken durchzusetzen.

Bei den Menschenrechten ist China alles andere als modern.

Trotz aller völlig berechtigter Kritik: Es gibt Ansätze zu einer Verbesserung der Menschenrechtssituation. Aber man muss da realistisch bleiben: Natürlich kann ein Land, das in so kurzer Zeit solche Entwicklungen und Fortschritte gemacht hat, nicht in kurzer Zeit an allen Ecken und Enden alles verbessern. Es gibt wahnsinnige Umwelt- und soziale Probleme, es knallt an allen Ecken.

Was empfindet der normale Chinese, wenn er über den Platz des Himmlischen Friedens geht, wo 1989 das Massaker an Demonstranten angerichtet wurde?

Ich bin mir sicher, dass die meisten wahnsinnig stolz sind, dass ein so großer Platz gebaut wurde. Es gibt diese paar Demonstranten, aber das sind vor allem Akademiker. Die meisten Menschen denken wahrscheinlich nicht mehr an das Massaker. Der normale Chinese läuft über den Platz und diskutiert, was es zum Abendessen gibt.

Ist so ein Land, wenn es nicht quasi diktatorisch gelenkt wird, unregierbar?

Nach den ganzen Jahren Studium glaube ich: Es ist offensichtlich, dass China diesen wirtschaftlichen Fortschritt nicht mit einem Mehr-Partien-System erreichen könnte. Das würde zum Chaos führen.

Heute beginnen nach viel Kritik an China die Olympischen Spiele. Spüren Sie bei der Bevölkerung denn echte Olympiabegeisterung?

Schwer zu sagen. In Peking ist alles voll mit Plakaten. Da steht dann etwa: „Wir hören auf zu spucken, wenn die Touristen kommen.“ Die eine Hälfte der Bevölkerung ist begeistert und will genau das umsetzen, die andere ist wahrscheinlich genervt, weil man überall auf diese Parolen trifft. Natürlich gibt es durch Olympia auch viele Probleme. Durch die Neubauten leiden ganze Viertel. Die werden dann einfach abgerissen. An ein Haus, der abgerissen werden sollte, kam einfach ein rotes Kreuz, fertig. Dann hieß es: Ihr habt fünf Tage Zeit, um eure Sachen zu packen. Das ist jetzt allerdings nicht mehr möglich, aber vielen Chinesen nützt das nichts mehr.

Reden Sie mit Ihren chinesischen Fechtkolleginnen über solche Probleme?

Es ist generell nicht zu empfehlen, über Politik zu diskutieren. Aber ich kann Ihnen versichern, dass sich meine Kolleginnen keine Gedanken darüber machen. Es ist eine sehr westliche Sicht zu glauben, dass diese Menschen sehr unter der Gesamtsituation leiden, die Mentalität ist einfach anders. Die sind in diesem System groß geworden. Wenn man kleine Turner, die geschlagen wurden, fragt, ob sie Prügel verdient haben, würden sie immer sagen: ja. Das sollte natürlich anders sein, aber die Leute leiden nicht so sehr, wie wir uns das vorstellen.

Es gibt viele Trainer aus dem Westen in China. Nicht alle haben die westlichen Trainingsmethoden in China umsetzen können. Stößt man damit auch im Fechten an eine Mauer?

So viel dazu: Wir hatten dreimal täglich Training im Stil von Turnvater Jahn. Da musste man sich sogar aufstellen.

Und die Sportler wehren sich nicht gegen solche antiquierten Anweisungen?

Noch nicht. Dass Einzelne Rechte haben, ist ein völlig fremder Gedanke. Aber ich glaube, dass diese Denkweise durch die Olympischen Spiele, aber auch durchs Internet, langsam aufgeweicht wird.

Und wann könnte sich dieser Wandel endgültig vollzogen haben?

Solange der Aufschwung stattfindet, wird sich wenig ändern. Die Menschen sind zu sehr damit beschäftigt, den Aufschwung zu genießen. Ich kenne kaum ein Land, das kapitalistischer agiert als China. So geldgeil sind die Menschen.

Wie äußert sich das?

Jeder will ein Auto haben und gute Kleidung tragen. Es gibt viele Statussymbole.

Und die gibt’s dann auch im Sport?

Da ist es etwas abgestuft. Viele haben ja schon Glück, dass sie überhaupt Sportler sind. Die meisten kamen aus Verhältnissen, in denen sie ums Überleben gekämpft hätten. Unterkunft und drei warme Mahlzeiten am Tag, das ist für die schon ein Aufstieg. Es gibt zwar Prämien, aber was bedeutet das schon? Kolleginnen haben sich eine Wohnung gekauft, aber die sind zehn Monate im Jahr in der Sportkaserne. Die kommen einmal im Monat nach Peking rein.

Wie viel Freiraum kann sich ein chinesischer Fechter erlauben?

Es ist völlig unmöglich auszuscheren. Meine Kollegen kennen ihr Trainingszentrum und sonst nichts. Die werden schon ein bisschen wie Kinder gehalten.

Da sind ja Welten aufeinander geprallt, wenn Sie mit denen gesprochen haben.

Die können zum Beispiel nicht verstehen, dass ich seit sechs Jahren in meiner eigenen Wohnung in Köln lebe, zur Uni gehe und der Sport nicht mein Lebensmittelpunkt ist. Jedesmal, wenn ich meine Geschichte einem Chinesen erzähle, fragt der mich 20 Mal, ob er mich richtig verstanden hat.

Sie sind Weltmeisterin, hilft Ihnen dieser Status, wenn sie Botschaften vermitteln? Grundsätzlich sehe ich mich nicht als Botschafterin. Aber ich erlebe kleinere Erfolge. Ich war in Paris beim Weltcup, plötzlich protestierten alle ausländischen Trainer wegen irgendwelcher neuen Regelungen. Das habe ich den chinesischen Trainern gesagt. Ich hatte gedacht, die halten sich raus, sie hatten ja keine offizielle Anweisung, auch zu protestieren. Da habe ich ihnen den Streitpunkt erklärt und gesagt, kommt doch mal dazu. Die kamen dann tatsächlich. Das fand ich stark.

Das Gespräch führte Frank Bachner. Eine ausführlichere Version finden Sie auf www.tagesspiegel.de/olympia 2008

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