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Sport: Euphorie gewinnt

Der Heimvorteil kann für die deutschen Handballer im Endspiel wieder entscheidend sein

Für den Handballtorwart Johannes Bitter ist diese Weltmeisterschaft eine wenig ausfüllende Veranstaltung. Der Magdeburger ist bei den Deutschen die Nummer zwei hinter Henning Fritz, dem überragenden Torhüter des Turniers. Manchmal darf Bitter für ein paar Sekunden aufs Feld, um den Gegner bei einem Siebenmeter zu verwirren. Ansonsten erschöpft sich sein Dienst für die Mannschaft darin, Fritz die Mineralwasserflaschen zu öffnen und zu reichen. Und doch ist der blonde Hüne nach jedem Spiel genauso erschöpft wie seine spielenden Kollegen, mindestens. Johannes Bitter schafft es einfach nicht, eine Minute am Stück ruhig auf der Bank zu sitzen. Er hüpft auf und ab, hebt die Arme und brüllt das Publikum an, bei Bedarf auch die Schiedsrichter. Ein kleines Kind würde man mit diesen Symptomen zum Psychologischen Dienst schicken – klarer Fall von ADS, Hyperaktivität, Zappelphilipp-Syndrom.

„Wenn ihr mir das verbieten wollt, müsst ihr mich schon festbinden“, sagt Bitter, aber es denkt ja keiner daran, ihm irgendetwas zu verbieten. Johannes Bitter ist der erste Einpeitscher der Nation, zuständig für die Mobilisierung des Publikums. Und ohne die Hilfe des Publikums würde die deutsche Mannschaft heute Nachmittag wahrscheinlich nicht im Endspiel um die Weltmeisterschaft (16.30 Uhr, live in der ARD) stehen.

Heiner Brand hört so etwas nicht so gern. Der Bundestrainer will ja seine Verdienste um den Aufbau der Mannschaft gewürdigt sehen. „Die Tore müssen wir schon selbst schießen und die Abwehr organisiert sich auch nicht von allein“, sagt Brand und gibt dann doch zu, dass die Atmosphäre einzigartig sei: „Das lässt die Müdigkeit vergessen, vielleicht wäre sonst schon ein Einbruch gekommen.“ Vor vier Jahren schauten im Pavilhao Atlantico von Lissabon gerade 10 000 zu, wie Spanien im WM-Finale über Kroatien siegte. Fast doppelt so viele werden es heute in der Kölnarena beim Finale zwischen Deutschland und Polen sein, und fast alle werden versuchen, die Deutschen zum Sieg zu brüllen.

Fans dürfen, müssen Partei ergreifen, sonst wären sie keine Fans. Aber wie ist das mit der offiziellen Seite? Bei der Fußball-WM im vergangenen Sommer beurlaubte der Weltverband Fifa einen Stadionsprecher, der im Viertelfinale gegen Argentinien um ein bisschen mehr Unterstützung für die deutsche Mannschaft gebeten hatte. Beim Handball ist alles erlaubt. Wenn Henning Fritz wieder einen Ball gehalten hat, ruft der Hallensprecher: „Wie heißt unser Torwart? Henning…“ – „Fritz!“ antwortet das Publikum. Deutsche Tore werden musikalisch untermalt mit „Viva Colonia“, einem Karnevalslied der Kölner Band Höhner, die in der Halbzeitpause des Halbfinales zwischen Deutschland und Frankreich ihren großen Auftritt hat. Die Herren singen ein von ihnen komponiertes WM-Liedchen mit der Botschaft, dass es an der Zeit sei, den Titel nach Deutschland zu holen. Sie tragen schwarz-rot-goldene Schals und brüllen: „Wir schaffen das noch, wir biegen dieses Spiel um.“ Dann geben sie das Mikrofon weiter an den Hallensprecher, der anstimmt: „Steht auf, wenn ihr Deutsche seid!“ Den Rest übernimmt das Publikum.

„Es ist ja schön, dass hier ein so großes Turnier aufgezogen wird, aber man muss auch den anderen Mannschaften ihre Rechte lassen“, sagt der französische Trainer Claude Onesta. „Das ist eindeutig eine Weltmeisterschaft von Deutschen für die Deutschen mit Unterstützung des Weltverbandes.“ Onesta war nicht der erste, der sich über vermeintlich fehlende Objektivität beklagte. Vor dem Franzosen hatten bereits die Trainer aus Slowenien und Spanien moniert, die Schiedsrichter würden unter dem Einfluss der Zuschauer die deutsche Mannschaft bevorzugen. „Natürlich sind die Schiedsrichter niemandem Rechenschaft schuldig. Aber man kann sich gut vorstellen, wie sie hinter einem Duschvorhang sitzen und das Für und Wider mit den 19 000 Zuschauern abwägen", schrieb die linksliberale „Liberation“, ein angesehenes Blatt und billiger Polemik traditionell unverdächtig.

Die Deutschen haken derartige Kritik ab, als schlechtes Benehmen schlechter Verlierer. „Ich verstehe ja, dass sie enttäuscht sind“, sagt der Lemgoer Markus Baur. „Aber die Franzosen sind auch vor sechs Jahren bei der WM in ihrem Land mit dem Victory-Zeichen durch die Halle gelaufen.“ Frankreich spielt heute gegen Dänemark um Platz drei, Trainer Onesta verlangt einen Sieg, er will ihn dem deutschen Publikum widmen, „als unsere Antwort auf das, was im Halbfinale passiert ist“.

Wo Sie in Berlin das Handball-Finale sehen können: Seite 10. Leitartikel: Seite 1

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