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Sie nannten ihn "Albatros": Seinen Spitznamen bekam Michael Groß wegen seiner enormen Spannweite beim Delphinschwimmen.

© Imago/Sven Simon

Ex-Leistungssportler Michael Groß: „Ein Mensch sollte eine Vision haben“

Der frühere Schwimm-Olympiasieger Michael Groß berät Menschen, Ziele zu finden und zu erreichen. Ein Gespräch über Motivation, Träume und Zielhäuser.

Herr Groß, als Schwimmer haben Sie mit Olympiagold das größtmögliche Ziel erreicht. Heute helfen Sie als Berater und Coach Menschen, Ziele zu finden und zu erreichen. Wie sind Sie darauf gekommen?

Ich hatte in meiner Karriere den großen Vorteil, dass ich damals schon, ohne darüber groß zu reflektieren, ein Zielhaus hatte mit Schule und Studium. Ich hatte nicht nur das Schwimmen.

Was ist denn ein Zielhaus?
Jeder Mensch kann eine Zielhierarchie entwickeln. Weil das ein bisschen sperrig klingt, habe ich daraus ein Zielhaus gemacht. Da gibt es verschiedene Räume und verschiedene Stockwerke. Ganz oben, im Dachboden, steht etwa die Lebensvision.

Was liegt auf Ihrem Dachboden?
Ich komme da selten hoch. Aber bei mir liegt da das Thema Pilot werden. Dieser Traum war für mich nach zwei Minuten ausgeträumt, wegen meiner Körpergröße. Dennoch ist das nach wie vor belebend. Auf längeren Flügen kann ich ganz romantisch werden. Mein jüngster Flug nach Asien war etwas schaukeliger. Manche finden das unheimlich, aber ich finde es klasse, weil man spürt, wie das Flugzeug arbeitet. Dass man eben fliegt und nicht nur dahingleitet.

Können Sie sich Ihrem Pilotenziel überhaupt annähern?
Ja. Einfach nur gedanklich. Ich bin der Meinung, dass jeder Mensch eine Vision haben sollte für sein Leben, die ihn emotional berührt. Sportler haben einen ganz großen Vorteil und gleichzeitig dadurch einen Nachteil. Sie können aus ihrer Vision zunächst ein Hobby und dann einen Traumberuf machen. Andererseits ist die Zeit als Sportler kurz. Nach dem Sport haben sie ja noch Jahrzehnte vor sich. Da geht das eigentliche Leben richtig los. Da muss man neue, ganz andere Ziele setzen, was vielen schwerfällt. Da kommt dann das Zielhaus ins Spiel. Es kann einem über verschiedene Lebensphasen, bis hin zum einzelnen Lebenstag unwahrscheinlich viele Perspektiven bieten.

Haben Sie denn ehemalige Kollegen aus dem Sport schon beraten, besser mit diesem Übergang klarzukommen?
Das macht bei uns meine Frau, die macht Businesscoaching. Sie hat zum Beispiel einen Handball-Nationalspieler gecoacht. Es geht dabei auch darum, dass die Ziele außerhalb des Sports wesentlich weniger spektakulär sind. Es jubeln einem nicht mehr 10 000 Leute zu, wenn man sein Ziel erreicht hat. Der Jubel ist innerlich. Man muss erkennen, dass auch das wertvoll ist und eine Bedeutung hat.

Wobei hilft das Zielhaus im Sport?
Ein großes Ziel für einen Sommersportler könnten die Olympischen Spiele 2020 in Tokio sein. Vier Jahre, also eine Olympiade. Das ist aber viel zu lang, um sich täglich zu engagieren. Deshalb unterteile ich das. In eine Saison. In noch kleinere Abschnitte. Da gibt es dann auch tolle Momente, wenn ich zum Beispiel eine Trainingsbestzeit schwimme. Diese Momente kann man zwar nicht mit einem Olympiasieg vergleichen, aber wenn man zum ersten Mal eine Leistung schafft, dann ist das emotional super. Dann hat man viel am Tag erreicht.

Ist also das gedankliche Gebäude von Spitzensportlern weniger verwinkelt und hat weniger Stockwerke?
Weniger verwinkelt ja, aber weniger Stockwerke nicht unbedingt. Ein Zielhaus hat immer viele Räume. Nämlich Familie, Beruf, Hobby, Freunde. Das sind vier Dimensionen, die jeder Mensch haben kann. Da kommt vielleicht noch zum Beruf eine fünfte Ebene dazu, das lebenslange Lernen, die eigene Weiterbildung. Die Räume beleben sich gegenseitig, und dennoch kann es auch mal passieren, dass ich nur einen Raum bewohne. Manchmal wirft einen auch etwas aus der Bahn, dann verschließen sich Räume, oft hat das gesundheitliche Gründe. Ronny Ziesmer hat mir mal etwas erzählt …

… der Turner, der seit einem Trainingsunfall querschnittgelähmt ist…
… dass nämlich plötzlich nach seinem Unfall zwar bestimmte Möglichkeiten verwehrt waren. Sich aber neue Möglichkeiten eröffnet hätten. Das passt schön zu diesem Zielhaus. Dass man sagt: Mist, jetzt sind vielleicht im Zielhaus fast alle Räume geschlossen, aber man findet manchmal Zugang zu ganz neuen Räumen.

Verführt der Sport nicht gerade dazu, sich seine Ziele im Leben viel zu simpel zu stecken, weil Ziele im Sport so einfach sind?
Ja, deswegen ist das soziale Umfeld so wichtig, einen davor zu bewahren, alles auf eine Karte zu setzen. In jungen Jahren stürzt man sich mit all seinem Enthusiasmus in etwas rein. Und wenn der Sport vorbei ist, schaut man sich ganz verwundert um. Man muss sich ganz anders definieren, wesentlich komplexer. Deshalb habe ich schon als Athlet die Initiativen der Sporthilfe geschätzt, denn die fördert, dass man auf zwei Beinen steht mit Stipendien und verschiedenen Aktionen. Im Profifußball finde ich wichtig, wenn Vereine wie der SC Freiburg darauf hinwirken, dass Spieler im Fußballinternat auch Abitur machen. Weil das Abitur nun mal Eintrittskarte für andere Optionen auf unserem Planeten ist.

"Ich habe noch keinen Vorstand erlebt, der das Ziel hatte, Vorstand zu werden"

Michael Groß arbeitet inzwischen als selbständiger Unternehmensberater im Taunus und hat mehrere Bücher zum Thema Coaching geschrieben.
Michael Groß arbeitet inzwischen als selbständiger Unternehmensberater im Taunus und hat mehrere Bücher zum Thema Coaching geschrieben.

© Imago

Woher kommt die Motivation, um Ziele zu erreichen?
Es gibt drei Motivationsarten, die in der Psychologie anerkannt sind. Spitzensportler brauchen vor allem Leistungsmotivation. Klar. Dann gibt es aber auch die sogenannte Anschlussmotivation oder Sozialmotivation. Wir wollen mit anderen Menschen etwas gemeinsam machen. Als Sportler könnte ich auch alleine einen Marathon rennen. Aber es macht einfach Riesenspaß, zusammen mit Tausenden von anderen Leuten zu laufen. Deswegen gibt es große Städte-Marathons. Deswegen gibt es Trainingsgruppen. Die schlimmste Zeit für mich war, alleine zu trainieren, so nach deutschen Meisterschaften, wenn sich kein anderer von dem Verein für die nächste Stufe qualifiziert hatte. Horror.

Und die dritte Motivationsart?
Das ist die sogenannte Machtmotivation, hört sich jetzt martialisch an, aber es ist unwahrscheinlich wichtig für eine Gesellschaft, dass es Menschen gibt, die andere für etwas begeistern wollen, sie von etwas überzeugen und etwas organisieren wollen. Sonst gäbe es auch kein ehrenamtliches Engagement.

Woher kam Ihre Motivation?
Ein riesiger Antrieb war, in der Weltgeschichte rumzukommen. Wo wir in den 80er Jahren überall waren – sagenhaft. 1980 nach Schanghai, das war ein Abenteuer. Die Lufthansa flog nur dreimal in der Woche nach Hongkong. Und dann die Gemeinschaft, die wir hatten. Zum Trainingslager sind wir nach Australien gefahren, wer hat denn das gemacht?

Auf die Frage, wie er seine vielen Goldmedaillen gewinnen konnte, hat Michael Phelps einmal gesagt: Dream big, dream as big as you can. Muss man so groß wie möglich träumen, um große Ziele zu erreichen?
Ich würde sagen, das ist eine Ausnahme. Das kann er machen. Klingt auch sehr amerikanisch. Aber es ist kein Konzept für einen normalen Menschen. Das hört sich gut an, gibt einem ein gutes Gefühl, wenn man den Raum verlässt, aber am nächsten Tag holen einen die üblichen Alltagsschwierigkeiten wieder ein. Da helfen einem große Träume nicht weiter. Bei manchen lösen sie sogar eine Blockade aus.

Dann vielleicht ein näheres Beispiel. Der Hochspringer Raul Spank hatte sich öffentlich vorgenommen, Olympiasieger zu werden. Seine Begründung lautete: Nur durch ein so hohes Ziel habe er es geschafft, bei jedem Wetter früh aufzustehen und zum Training zu fahren.
Gut. Wenn jemand schon in der Weltspitze ist, ist das ja auch nicht himmelweit weg. Aber wenn jemand eine Banklehre gemacht hat und mit 20 sagt, er möchte mal Vorstandsvorsitzender werden, ist das wie als Nachwuchssportler vom Olympiasieg zu reden. Ich habe noch keinen Vorstand erlebt, der als Ziel hatte, Vorstand zu werden. Das hat sich so ergeben. Durch verschiedene Räume, die man durchschritten hat in seinem Zielhaus. Und plötzlich hat sich die Tür Richtung Vorstand aufgetan.

Was würden Sie Spitzensportlern noch raten?
Man muss wissen, dass man bestimmte Dinge nicht nachholen kann. Mit dem Abitur klappt das ja noch manchmal, in anderen Bereichen wird es schwieriger. Ich habe privat jemand gecoacht, der mit 60 noch Kinder bekommen hat. Wir haben dann zusammen herausgefunden, warum er das gemacht hat: Weil er Schuldgefühle seinen schon erwachsenen Kindern gegenüber hatte, weil er sich als Chefarzt einer Klinik nicht richtig um sie gekümmert hat und ständig weg war. Alles, was zum Kindergroßziehen gehört, will er eigentlich auch nicht mehr, früh aufstehen, solche Dinge. Jetzt geht es darum, ihm das schlechte Gewissen zu nehmen. Im Sport gibt es auch Leute, die schwimmen, schwimmen, schwimmen, und auf einmal ist es vorbei und sie fragen sich: Und jetzt?

Was ist dann der erste Schritt?
Selbstgewissheit zu finden. Aber es ist mühseliger, sich erst selbst zu entdecken, als irgendeinem hinterherzurennen. Aber dann wird es wesentlich erfüllender.

Inwieweit beeinflussen Zeitgeist und Gesellschaft unsere Ziele?
Die Medien und sozialen Kanäle geben uns viel vor. Mit Castingshows. Mit Botschaften und Beschäftigungen wie Pokemon Go. Da hüpfen erst alle drauf, dann wird es wieder fallen gelassen. Vielleicht bin ich jetzt ein bisschen naiv oder idealistisch, aber ich glaube schon, dass es ein Umschlagen geben wird. Dass die Menschen etwas feststellen: Digitalisierung macht einerseits manches möglich, andererseits aber auch vieles unmöglich. Die pure Emotion und dieses Selber-etwas-Erarbeiten, sich Ziele setzen, kann einem digital nicht gegeben werden.

Warum?
Weil wir Hände haben, Augen haben, einen Geruchssinn haben. Es muss etwas Handfestes passieren, das brauchen wir. Wenn einem digitale Helfer das leichter machen okay, aber schwitzen muss ich noch selbst.

Was ist denn Ihr nächstes Ziel?
Ich lehre bei einem neuen Masterseminar. An der Uni Frankfurt gibt es ein elektronisches Feedback, da möchte ich bei der Bewertung durch die Studenten unter den besten 30 Prozent der Lehrkräfte sein. Wenn die jungen Studenten sagen, der Michael hat mich wirklich weitergebracht – das ist für mich der Maßstab. Ich bin jetzt 52 und das Schöne ist: Man kann sich zu jeder Zeit neue Ziele stecken.

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