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Der frühere Schiedsrichter Markus Merk fordert den Videobeweis.

© dpa

Ex-Schiedsrichter Markus Merk zum Phantomtor: "Kießlings Phantomtor ist ein Trauma"

Nach Stefan Kießlings Phantomtor fordert der dreifache Weltschiedsrichter Markus Merk ein Wiederholungsspiel und den Videobeweis. Außerdem vergleicht der frühere Zahnarzt Kießlings Phantomtor mit dem von Thomas Helmer von 1994.

Herr Merk, für den Weltfußballverband Fifa ist die Tatsachenentscheidung des Schiedsrichters heilig. Demnach dürfte das Spiel Hoffenheim gegen Leverkusen nicht wiederholt werden, obwohl Leverkusen durch ein Tor, das keines war, gewonnen hat. Was denken Sie darüber?

Ich rede jetzt als ehemaliger Schiedsrichter und heutiger Fußballfan. Ich bin kein Jurist, trotzdem kann die Antwort nur heißen: Es muss wiederholt werden. Aus dem überzeugendsten Grund, der mir einfällt.

Und der wäre?

Die Sache kann kein Mensch als akzeptabel empfinden. Es geht um Gerechtigkeit. Es wäre ein Affront gegen den Fußball, wenn es keine Neuansetzung gäbe.

Lässt sich Stefan Kießlings Tor mit dem von Thomas Helmer vergleichen, der am 23. April 1994 beim 2:1 des FC Bayern gegen Nürnberg ein Phantomtor erzielt hat?

Da besteht für mich nur theoretisch ein Unterschied: Bei Helmer war der Ball nicht im Tor, hier am Ende ja, obwohl er von außen durch ein Loch im Netz ins Tor flog. Sonst ist das eine identische Sache: Ein Tor wird gegeben, obwohl es keines war. Was in beiden Fällen über den normalen Fall hinausgeht, dass der Ball knapp hinter der Linie ist und es keiner sieht.

Bleibt die Haltung der Fifa zur Tatsachenentscheidung?

Damals bei Helmer gab es relativ geräuschlos ein neues Spiel, trotz der Fifa. Es gibt Vorfälle, da darf die Tatsachenentscheidung nicht in Stein gemeißelt sein. Schauen sie die Außenwirkung an, was den Ruf des Fußballs in Deutschland im 21. Jahrhundert angeht. Ich habe nach dem Tor viele Anrufe aus der Türkei bekommen, wo ich als TV-Experte tätig bin. Da hieß es: Was ist denn bei euch in Deutschland los?

Hätte bei Stefan Kießlings Phantomtor eines der Torlinien-Technologie-Systeme in der Sache geholfen?

Schauen wir auf das Tor von Kevin Volland am ersten Spieltag gegen Nürnberg. Da war der Ball für alle sichtbar hinter der Linie. Aus der Sache muss keine Wissenschaft werden. Gesunder Menschenverstand würde helfen. Hätte der Schiedsrichter die Möglichkeit, sich die Szene anzuschauen, wäre beides nicht so passiert.

Sie sind also Verfechter des Videobeweises?

Das bin ich seit 2007, als ich das öffentlich gesagt habe und kritisiert wurde. Dass weiter so stur verfahren wird, ist nicht nachvollziehbar. Alle wären mit einem Blick auf die TV-Bilder aus der Schusslinie.

Ein Gegenargument lautet: Mit Videobeweis wird das Spiel ständig unterbrochen.

Es wäre weniger lang unterbrochen gewesen als jetzt. Und wir hätten weniger Ärger. Außerdem haben wir nur wenige heikle Szenen, in denen es um Tor oder Nicht-Tor geht. Das hält der Fußball aus.

Werden die Schiedsrichter alleingelassen mit der für sie oft nicht lösbaren Situation?

Nicht nur die Schiedsrichter werden alleingelassen, der gesamte Fußball wird alleingelassen. Für den Schiedsrichter ist es ein Trauma. Aber es gibt weitere betroffene Parteien, die Vereine, Spieler, Trainer und die Zuschauer.

Hätte Felix Brych länger nachforschen sollen, bevor er auf Tor entschied?

Das lässt sich von außen leicht sagen. Man überlegt als ehemaliger Schiedsrichter natürlich: Was hättest du gemacht? Wäre ich trotzdem raus und hätte geschaut? Hätte ich jeden im Stadion gefragt? Heute denke ich, ich hätte es gemacht. Heute. So ein Tor zu geben, ist sicher die bitterste Sache für einen Schiedsrichter, die es gibt – aller Vorgaben zum Trotz.

Ein anderes Argument gegen die Torlinien-Technologie sind die Kosten. Für kleinere Verbände wären diese zu hoch.

Wer es machen kann, der macht es. Das soll nicht respektlos klingen, aber eine Liga irgendwo auf der Welt hat eine andere Wertigkeit als die Ligen in Spanien, Frankreich, England und Deutschland. Das ist ein schwaches Argument.

Wem im Sinsheimer Stadion ist ein Vorwurf zu machen?

Es ist eine lange Fehlerkette. Die fängt beim Platzwart an, der ein Netz aufhängt, das nicht hält. Das hat er sicher nicht absichtlich gemacht. Der Assistent hat es nicht genau genug geprüft. Der Spieler dreht ab, weil er sich erst einmal ärgert, dass der Kopfball nicht drin war. Das Ganze ist unglaublich kurios, der Ball ging durch ein Loch, das halb so groß ist wie das in der ZDF-Torwand.

Was muss nun nach Stefan Kießlings Phantomtor passieren?

Es muss über eine neue Grundstruktur im Fußball nachgedacht werden, ohne das Spiel zu ändern. Als ich vor Jahren den Videobeweis gefordert habe, hatte mancher Kollege Angst, ihm würde die Macht genommen, ein Spiel zu leiten. Heute denken einige anders darüber. Im Hinblick auf die großen Verbände bin ich skeptisch, dass man Änderungen zulässt. Aber sich auf die Tatsachenentscheidung zurückzuziehen, darf keine Lösung sein.

Das Gespräch führte Oliver Trust.

Markus Merk, 51, war 2004, 2005, 2007 Weltschiedsrichter des Jahres. Der frühere Zahnarzt leitete 339 Bundesliga- Partien und 50 A-Länderspiele. Heute arbeitet er als TV-Experte.

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