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Dieses Tempo, diese Eleganz. Auch beim olympischen Sprintfinale in London zeigte Usain Bolt explodierende Schnelligkeit und Schönheit im Lauf – in diesem Moment vermochte es kaum ein Hintergedanke an Doping, das sinnliche Faszinosum zu trüben.

© AFP

Faszination Sport: Der Lauf des Lebens

Anarchie mit klaren Regeln, Glück und Unglück in magischen Momenten. Sport sprengt Grenzen wie sonst nur die Liebe oder die große Kunst. Eine Huldigung.

Glück und Katastrophe, Gipfel und Abgrund gehören zum Leben, also auch zum Sport. Aber wie! Der große Zauber des Sports ist ja die Verdichtung, die ungeheure Verdichtung dieser Erfahrung von Himmel und Hölle. Von Sieg und Verlust. Der kleine Tod, so nennen die Franzosen den Höhepunkt der Liebeslust und den Moment danach. Schön vorbei.

Triumph und Trauer haarscharf beieinander, das haben vier deutsche Sportler, zwei Frauen und zwei Männer, im Jahr 2012 aufs Tollste, Tragischste, Kurioseste, Erlösendste erlebt. Und uns Zuschauer miterleben lassen. Am Abend des 20. Mai, beim Elfmeterschießen nach der Verlängerung, tritt Bastian Schweinsteiger im Champions-League-Finale gegen den FC Chelsea als letzter Schütze des FC Bayern an. Und verschießt.

Aber Schweinsteiger haben, anders als bei anderen und anders als schnellschüssig behauptet, keineswegs die Nerven versagt. Der zuvor lange verletzte, früh im Spiel erneut angeschlagene, den Schmerz und die innere Schwerkraft überwindende Mittelfeldkapitän schießt exzellent. Völlig unhaltbar für den starken Chelsea-Keeper Petr Czech. Doch der Ball geht gegen den Innenpfosten und springt zurück – ein Zentimeter- oder gar Millimeterpech, das entscheidet.

Ein kleiner Tod. Man hat im Fußball den „sudden death“, das eine, sogleich entscheidende Tor in der Nachspielzeit, zwar abgeschafft. Dennoch lebt das Spiel auch von den anderen kleinen Toden – und dazu den unglaublichen, nicht nur nach 0:4-Rückständen möglichen Wiedergeburten.

Am Abend des 4. August hat die Siebenkämpferin Lilli Schwarzkopf mit einem großen abschließenden 800-Meterlauf Silber gewonnen. Glaubt sie, glauben 70 000 im Londoner Olympiastadion und Millionen an den Bildschirmen. Bis zur offiziellen Anzeige dauert es ein paar Minuten, dann aber taucht dort keine Lilli Schwarzkopf auf. Bald heißt es, sie habe in der Startkurve die weiße Linie ihrer Laufbahn mit dem Schuh berührt, das wäre regelwidrig. Ein paar Millimeter – nach zwei Tagen Höchstleistung in der so genannten Königsdisziplin der Leichtathletik. Irrsinn, Tragik, ein Fall zum Verzweifeln? Das bringt einen Menschen, der für diesen Wettkampf, für diesen Moment an seine Grenzen gegangen ist, eigentlich darüber hinaus. Ein Sturz in den Abgrund. Doch Lilli S. kämpft weiter, mit den Kampfrichtern. Und gewinnt nach zehn Minuten Ewigkeit in der Hölle doch noch Silber. Es war ein Irrtum, eine andere Läuferin hatte die dünne weiße Linie mit dem linken Fuß eine Hundertstelsekunde gestreift.

Am 10. August trifft sie im Londoner Olympiastadion der Hammer, nachdem sie den ihren gerade geworfen hat: Betty Heidler. Mit ihrem vorletzten Versuch landet die Weltrekordlerin in den Medaillenrängen, doch die elektronische Messung versagt. Bei diesem einen Wurf. Die Weite und die Bronzemedaille werden erst einige Zeit nach Ende des Wettkampfs per Hand und Band nachermittelt. Glück oder nur Gerechtigkeit? Wieder dieses Wechselbad, als wäre fürs sportliche Drama der leidenschaftliche Ernst nicht genug, als bräuchte es noch das Satyrspiel, die Hightech-Hintertreppenkomödie.

Oder Sebastian Vettels Karambolage beim entscheidenden letzten Rennen der Formel 1 in Brasilien. Die erste von 71 Runden ist noch nicht zur Hälfte vorbei, da trifft ihn Bruno Senna von hinten, Vettel dreht sich, steht, muss das ganze Feld an sich vorbei lassen, kaum glaubt man, dass sein beschädigter Red Bull das Rennen überhaupt fortsetzen kann. Die WM verloren, im 20. Rennen nach 20 Sekunden. Wahnsinn, auch hier. Aber manchmal gibt’s im Leben und im Sport eben so etwas wie: verdiente Wunder. Fahrer und Auto drehen sich, drehen es unverhofft, und fast schon ausgeschieden wird Vettel noch zum dritten Mal Weltmeister.

Im Sport weht die große Freiheit. Nichts ist vorhersehbar.

Es ist eine ziemlich gute Werbung, die im Fernsehen mit dem Bier, mit der deutschen Fußball-Nationalmannschaft und dem sonoren Slogan: „Alles für diesen Moment.“ Die Faszination allen Sports (allen Lebens?) gründet tatsächlich in den sprichwörtlichen Magic Moments. Glück oder Unglück, Sieg oder Niederlage hängen immer auch am Augenblick. Wo sich alles (oder vieles) immer neu und anders entscheidet.

Laufen lernen. Auf dieser Grasbahn der „William Knibb Memorial Highschool“ in Jamaika machte Usain Bolt als kleiner Junge seine ersten schnellen Schritte. Das Foto zeigen wir mit freundlicher Genehmigung von Harald Schmitt.
Laufen lernen. Auf dieser Grasbahn der „William Knibb Memorial Highschool“ in Jamaika machte Usain Bolt als kleiner Junge seine ersten schnellen Schritte. Das Foto zeigen wir mit freundlicher Genehmigung von Harald Schmitt.

© Harald Schmitt.

Sport hat ja nicht nur mit Athletik zu tun, sondern auch mit Ästhetik. Mit der Form – im doppelten Sinn. Natürlich tanzen im Spitzensport Geld und Kalkül, Kraft und Strategie, Intelligenz und Spielwitz voraus. Doch das Spiel und der Witz (mitsamt den Dramen, Triumphen, Tragödien) ergeben mehr, als Tabellen, Medaillen, Pokale verraten. Toller, cooler, geiler, krasser Sport hat zugleich etwas mit Erotik, Liebe, Verrücktheit gemein. Fans sind auch Schwärmer, und allemal regiert das Unberechenbare. Das liegt schon daran, dass mindestens zwei gegeneinander antreten, und über den Sieger entscheidet auch der Verlierer.

Trotz aller taktischer Disziplin bedeutet Sport: schönste Anarchie mit klaren Regeln. Daraus entsteht erst die Spannung. Hätte ein Schachbrett nicht 64 Felder und jede Strecke, jedes Spielfeld seine vorbestimmten Maße, wären die unendlich vielen Variationen darauf nur schiere, im Alles und Nichts verpuffende Beliebigkeit. Es muss auch etwas Messbares geben, in Punkten, Toren, Zeiteinheiten – um das oft Unfassliche möglich zu machen.

Genau hier könnte der Sportfremde einwenden, es sei eigentlich doch alles auch beliebig oder zufällig: weil eine Hundertstelsekunde beim Anschlag eines Schwimmers oder dem Zieldurchrasen eines alpinen Abfahrtläufers als Leistungsunterschied zwischen Sieger und Nichtsieger unsichtbar sei und der Leistungsunterschied selbst nicht mehr fassbar. Darauf erwidert der Kenner und Fan: Nein, das Unfassliche ist eben, dass die wirklichen Meister den vermeintlichen Zufall, diesen Wimpernschlag der Geschichte, immer wieder herzustellen vermögen. Immer wieder um diese Winzigkeit schneller sind. Oder höher. Oder weiter. Oder im Tennis beim Ass oder Passierschlag immer wieder und öfter als Andere millimetergenau die Linie treffen, was rein rational gar nicht erklärbar erscheint und das Genie vom Talent unterscheidet. Um dann im Unberechenbaren plötzlich doch zu verlieren, selbst gegen einen Außenseiter.

Deswegen weht im Sport auch ein Hauch der großen Freiheit. Weil der Verlauf, weil das Ergebnis, weil der Sieger nie sicher vorherbestimmt sind. Nicht das Dabeisein ist alles, wie der olympische Baron de Coubertin einst wünschte. Die Hoffnung ist alles, sie ist die stolze Schwester der Überraschung, die im Sport regiert.

Natürlich gibt es auch die Manipulation: Stichwort Doping. Das beschädigt den Sport und weckt Argwohn, gegen Übermenschen à la Armstrong oder die Drill- und Kraftpakete aus China. Oft aber wissen wir es nicht, sehen es nicht. Sehen nur die explodierende Schnelligkeit und Schönheit im Lauf eines Usain Bolt – da vermag es kaum ein Hintergedanke, das pure, sinnliche Faszinosum zu trüben.

Mag es auch irgendwann trügen. Dieses Tempo, diese Eleganz prägt jenseits aller Athletik auch die Ästhetik des besten, schnellsten, erfolgreichsten Fußballs. Von Barcelona und den Spaniern bis zu den jungen Borussen und den Deutschen, wenn sie nicht gerade gegen Italien spielen. Plötzlich gerät in den von so viel Ehrgeiz, Schweiß, Money und Medizin vollgepumpten Spitzensport über alle taktische Vernunft und die tolle Technik hinaus auch: eine Leichtigkeit des Seins.

Die da unten im Stadion, wir da oben im Rang oder draußen vorm Fernseher sind davon im gleichen magischen Moment ergriffen. Jeder träumt davon, einmal aus der eigenen Haut zu geraten, die Grenzen des eigenen Körpers, Kopfs und die alltägliche Existenzschwere zu überschreiten. Im Sport wird’s, wie sonst nur in der Liebe oder in großer Kunst, Ereignis. Das macht das Faszinosum und das Fest des Sports, hier herrscht der Ausnahmezustand für immer und jetzt.

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