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Sport: Festa da Lisboa

Die Portugiesen widerlegen das Vorurteil, sie seien melancholische Romantiker

Um Mitternacht ist auch der Sohn Gottes ein Portugiese. Die riesige Christus-Statue an der Vasco-da-Gama-Brücke, dem neuen Wahrzeichen Lissabons, strahlt in der Nacht zum Donnerstag in rot-grünen Farben. Wer die Gottesfürchtigkeit der Portugiesen kennt, der weiß diesen Anflug von Blasphemie richtig einzuschätzen. Bis in die Morgenstunden feiert Portugal – einen 2:1-Sieg über Holland, den Einzug ins Finale der Fußball-Europameisterschaft, den größten Erfolg in der Geschichte des portugiesischen Fußballs. Und vor allem feiert Portugal sich selbst.

Es ist eine laute Nacht in Rot-Grün, und wer je die Partytauglichkeit einer Autohupe angezweifelt hat, der muss sich den nächtlichen Korso durch Lissabon ansehen. Vom Estadio José Alvalade die Nord-Süd-Achse hinunter bis zum Rossio, dem zentralen Platz der portugiesischen Hauptstadt. Alle machen sie mit, die Polizeiautos, die Linienbusse, die Fahrzeuge der Stadtreinigung und die ungezählten Privatautos, aus denen sich junge Mädchen und alte Männer recken. Mitten auf der Avenida da Republica steht ein Kipplaster, beladen mit einer rot-grünen Menschenmasse, die er immer wieder nach oben hebt und fallen lässt. Hunde werden in portugiesische Nationaltrikots gezwängt, und patriotische Taxifahrer lassen auf ihren Leuchtschildern gleichzeitig die rote (Taxi besetzt) und die grüne Diode (Taxi frei) leuchten. Dazu dröhnen die Hupen, aber sie können nicht den Refrain der Nacht übertönen, von Tausenden immer wieder gesungen bis zur glückseligen Heiserkeit: "Portugal olé, Portugal olé, Portugal olé!"

In dieser Nacht räumen die Portugiesen auf mit dem Vorurteil, sie seien eine Nation von romantischen Melancholikern, dem traurigen Fado verfallen und unfähig zur Ausgelassenheit. Nie ist die Wesensverwandtschaft zur früheren Kolonie Brasilien so deutlich wie bei der improvisierten Festa da Lisboa, die keinen Vergleich zum Karneval in Rio scheuen muss. Portugals Trainer Luiz Felipe Scolari ist Brasilianer, er zieht einen Ring aus der Tasche, zeigt ihn den portugiesischen Journalisten, „meinen lieben Freunden“, und verkündet: „Der Präsident des Fußballverbandes hat mir einen Antrag gemacht, und ich habe ihn angenommen. Wir werden zwei weitere Jahre verheiratet bleiben!“ Soll heißen: Scolaris Vertrag wird bis zur Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland verlängert.

Scolari wirkt sonst nicht gerade warmherzig, aber Mittwoch aber wird er sentimental. „Vor 13 Jahren, an exakt diesem 30. Juni, wurde Portugal Junioren-Weltmeister, mit Luis Figo, Rui Costa, Fernando Couto und Costinha, die jetzt bei der EM für uns spielen. Vor zwei Jahren, auch an einem 30. Juni, bin ich mit Brasilien Weltmeister geworden. Das ist ein magischer Tag.“ In der Kabine geht es hoch her, „wir haben eine wahnsinnige Party veranstaltet“, sagt Cristiano Ronaldo und widmet sein Tor zum 1:0 „dem gesamten portugiesischen Volk“. Er und seine Kollegen spielten die leidenschaftslos wirkenden Holländer schwindlig, und nach dem 2:0 durch Maniche nimmt die Party im Stadion ihren Lauf, nur kurz unterbrochen durch das holländische Anschlusstor, auch das erzielt von einem Portugiesen – Jorge Andrade traf per Eigentor.

„So einen verrückten Tag habe ich noch nie erlebt“, stammelt Abwehrspieler Miguel und erzählt von dem Hubschrauber, aus dem die Fahrt des Mannschaftsbusses zum Stadion live ins portugiesischen Fernsehen übertragen wurde. Von den Schiffen auf dem Tejo mit den rot-grün bemalten Schloten. Und von den Fans im Stadion, die ihre sonst so lautstarken niederländischen Kombattanten ein ganzes Fußballspiel lang niederbrüllten. Lissabon feiert „uma noite para recordarse“ (die Zeitung „A Bola“), eine Nacht, an die man sich erinnern wird, zumindest für die nächsten drei Tage. Bis zum Sonntag, wenn die Seleccao im Estadio da Luz Europameister werden soll.

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