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Sport: Fliegen, ohne Flügel

Von Christine-Felice Röhrs Zwei Schrittchen, kurz und schnell, die Fußspitze schleift. Dann duckt sich die Athletin, drückt sich ab, immer länger werden die Schritte, werden zu ausgreifenden Sätzen, ein dumpfer Knall, als ein Fuß auf den Absprungbalken vor der Weitsprung-Sandgrube trifft, der Körper schwingt sich empor, wie ein Bild hängt er eine Sekunde in der Luft, Beine angezogen, Kreuz gebogen, ein Arm graziös gestreckt – wuschsch, landet er im Sand.

Von Christine-Felice Röhrs

Zwei Schrittchen, kurz und schnell, die Fußspitze schleift. Dann duckt sich die Athletin, drückt sich ab, immer länger werden die Schritte, werden zu ausgreifenden Sätzen, ein dumpfer Knall, als ein Fuß auf den Absprungbalken vor der Weitsprung-Sandgrube trifft, der Körper schwingt sich empor, wie ein Bild hängt er eine Sekunde in der Luft, Beine angezogen, Kreuz gebogen, ein Arm graziös gestreckt – wuschsch, landet er im Sand. Kurz bleibt Catherine Bader-Bille noch reglos liegen. „Scheiße“, murmelt sie dann, richtet sich auf und wischt Blut vom Armstumpf. Bei der Landung hat er sich in den groben Sand gegraben. „Fünf Meter“ ruft der, der gemessen hat, und sie lacht schon wieder.

Catherine Bader-Bille kann fliegen, ohne Flügel. Im Weitsprung ist sie mehrmalige Deutsche Meisterin, Vizeweltmeisterin und Olympiasiegerin – alles Titel der Behindertenmeisterschaften. Denn ihr rechter Arm ist wie ein kleiner Wurm. Damit fehlen Koordinationsfähigkeit und Schwungmasse beim Anlaufen. Heike Drechslers Bestweite liegt bei 7,48 m. Catherine Bader-Billes Bestmarke liegt bei 5,55 m. Ein Arm weniger – das macht zwei Meter aus beim Fliegen.

An diesem Wochenende versucht Catherine Bader-Bille, noch weiter vorn zu landen. Seit Freitag laufen im Friedrich-Ludwig-Jahn-Stadion in Berlin die Internationalen Deutschen Leichathletikmeisterschaften für Behinderte. Es sind die größten, die es je gegeben hat mit 500 Athleten aus 19 Nationen, und sie gelten als letzter Test vor der WM, die in zwei Wochen in Lille, Frankreich, startet. Bis zum Tag vor dem Wettkampf haben viele im Sport-Zentrum Kienbaum trainiert, 30 Kilometer vor Berlin.

Als Exot in der DDR

Mittagsstille in Kienbaum. Auf dem Parkplatz stehen Autos mit Aufklebern wie „Gemeinsam auf Olympiakurs“ und „Athen 2004“. Viele Kombis sind dabei, auf der Ladefläche sperrige metallene Apparaturen, abmontierte Räder. Später, im Stadion, werden sie die fehlenden Beine oder Arme ersetzen und aus Behinderten Leistungssportler machen. Nach dem letzten Sprung in den Sandkasten hat sich Catherine Bader-Bille auf den Rasen innerhalb der Tartanbahn fallen lassen. Sie trägt ein orangefarbenes Oberteil und Schuhe, auf denen Cyber-Jump steht, die Haare sind kurz geschnitten.

Neuseeländische Staffelläufer joggen an ihr vorbei, sie sind blind. Klackernd fällt der Stab zu Boden, Gekicher. „Heute reißt sich hier keiner mehr ein Bein aus“, sagt Catherine. Auch für sie ist nur ein Sparprogramm angesagt, Tonisierung heißt das und soll die Muskeln am Tag vor dem Wettkampf in Leistungsbereitschaft versetzen. Es sind lange Muskeln, denn sie ist groß, 1,87 m. Die Beine sind fast endlos. Und dunkelbraun. Catherine Bader-Bille, 37, ist die Tochter eines Sportstudenten von der Elfenbeinküste und einer Leipziger Ruderin. Warum sie so geboren wurde, mit dem verkrüppelten Arm, das weiß keiner.

Als dunkles Kind mit Armstumpf, als Exot in der DDR aufzuwachsen – Bader-Bille sagt nicht viel darüber. „Es war okay“, sagt sie, und es ist nicht klar, ob es trotzig oder genervt klingt. Da war ja der Sport, der hat alles wettgemacht, da hat sie alle abgehängt. „Da kommt wieder die mit dem abben Arm“, haben die Jungs beim Lauftraining immer gestöhnt. „Die gewinnt ja eh.“ Die Jugendliche Catherine hat damals jeden Tag trainiert. Danach musste sie manchmal unter der Dusche sitzen, weil die Beine wegknickten. Aber als sie dann auf die Sportschule wollte, hat man sie nicht gelassen, des Armes wegen. Catherine Bader-Bille nennt diese Zurücksetzung „den Stachel“. Er sei immer noch da.

Die Sportlerin ist vorsichtig. Sie will keine Behinderten-Mitleid-Story erzählen. Die Kämpfe, die sie innerlich ausgefochten hat, klingen nur an. Sie sei noch zum Behinderten-Schwimmen gegangen. Aber gleich beim ersten Termin waren Sportler ohne Beine im Wasser, „da musste ich sofort weg“. Sie konnte nicht dableiben. Sie hätte plözlich ein Gefühl dafür bekommen, dass sie auch behindert ist. „Das hätte mir zu wehgetan.“

Catherine Bader-Bille hat dann den „Stachel“ sorgfältig in sich verkapselt und den Sport ad acta gelegt, hat Afrikanistik studiert, geheiratet, zwei Söhne bekommen, Lorenz ist jetzt 14, Richard neun. Und sie hat daran festgehalten: Ich bin nicht behindert.

Warum sie immer eine Jacke über den Schultern hatte, auch bei 40 Grad, darüber habe sie nicht einmal nachdenken wollen, sagt Catherine Bader-Bille, und zupft am knappen Oberteil. Der Stumpf liegt völlig frei. Früher hätte sie sich das nicht getraut. Früher war Ausblenden die Strategie, sagt Catherine Bader-Bille, und vielleicht merkt sie nicht einmal, dass sie im Sitzen das rechte Bein oft so an den Körper zieht, dass es das Ärmchen vor Blicken schützt.

Catherine Bader-Bille wurde 30, ehe sie begann, wieder Sport zu treiben. Der Impuls kam mit dem Tag, an dem sie die Mutter in Berlin besucht hatte. Sie waren am Sportforum-Stadion spazieren gegangen. Es war das Jahr der Behinderten-WM, und Catherine und ihrer Mutter trafen ein paar Armamputierte. Alle haben sich ganz normal benommen, mit ihren Stümpfen gestikuliert, nur Catherine nicht. Und da kam die Erkenntnis: „He! Ich bin ja hier die Behinderte!“ Ihr sei ganz schlecht geworden, sagt Catherine Bader-Bille und verdreht die Augen, als schäme sie sich im Nachhinein dieses erschütterten jüngeren Ichs. „Dann musste ich erst einmal ein Jahr nachdenken.“

Die 37-Jährige hat sich aufgerichtet und jemandem zugewinkt, einem weißhaarigen Mann mit Ghettoblaster unterm Arm. Den platziert der Mann am Rand der Tartanbahn und stellt ihn an. Laut. Ein Schlager schallt über die Tartanbahn. „Stört die Musik?“, brüllt er einer Gruppe von Kleinwüchsigen zu. „Nö“, schreien sie zurück, „ist doch schön.“ Dann kommt der Mann zu Catherine und setzt sich neben sie. Das ist Erich Drechsler, sagt Catherine Bader-Bille. Mein Trainer.

Training mit Erich Drechsler

Erich Drechsler, Heike Drechslers früherer Schwiegervater, Trainerstar der DDR, später Bundestrainer für den Weitsprung der Frauen. Catherine Bader-Bille hat ihn 1999 kennen gelernt. Als sie mit dem Wunsch kam, es nach Sydney zu schaffen, war Drechsler nicht mehr aktiv als Trainer. Aber er fragte sich: Warum soll gefragt: Warum soll ich meine Erfahrung nicht zur Verfügung stellen.

Catherine Bader-Bille und Erich Drechsler haben hart gearbeitet in der Leipziger Nordanlage. Als er sie das erste Mal gesehen habe, sagt der Trainer, habe er gedacht, „bäh, das sieht ja komisch aus“. Ihr Schwerpunkt lag links, weil ja rechts mit dem Arm ein paar Kilo fehlten, und wenn sie absprang, dann drehte sie sich in der Luft. Jetzt biegt Catherine Bader-Bille das rechte Bein leicht nach außen beim Absprung und arbeitet so dem Seitwärtsdrall entgegen. „Biomechanisch ist das nicht einwandfrei“, sagt Drechsler, „da gehen Kräfte verloren, aber 30 Zentimeter kommen im Sand dazu.“

In Berlin ist Catherine Bader-Bille Favoritin, auch bei der Weltmeisterschaft in Lille wird sie als eine Medaillenkandidatin gehandelt. Und trotzdem: Ruhm oder Reichtum wird es nicht geben. Es ist das alte Dilemma des Behindertensports: Verkrüppelte Körper schauen die Menschen nicht gerne an. Catherine Bader-Bille sagt, dass sie das ja gewusst habe. Sie hatte den Sport gewollt, nicht den Ruhm. Aber dass jetzt sogar der Sponsor abgesprungen ist … Neumann Bauelemente, Kranichfeld, Thüringen. Tja, die Wirtschaftslage, hat Neumann gesagt. Die Kosten aber bleiben: Spezialschuhe 230 Euro, Zusatzernährung, Reisekosten. „Im Behindertensport ist die Sponsorensuche Bettelei“, sagt Drechsler, sein Schützling Catherine Bader-Bille guckt weg.

Der Traum der Beiden sind sechs Meter. Sechs Meter weit soll Catherine Bader-Bille noch fliegen. Egal, ob sie dann einen Sponsor hat, egal, ob sie öffentliche Anerkennung erhält. Aber vielleicht wäre das dann ja der Tag, an dem sie den Stachel nicht mehr spürt.

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