zum Hauptinhalt

Sport: Fluch der Taktik

Fitschens EM-Titel findet nicht nur Anerkennung

Berlin - Das Schwarze Brett war fast völlig zugeklebt. Über Plasma-Physik war allerdings kaum etwas zu finden. Dabei haben sie ein ziemlich großes Schwarzes Brett bei den Plasma-Physikern an der Universität Bochum. Stattdessen hingen dort Zeitungsartikel, alle mit dem gleichen Foto: Der jubelnde Jan Fitschen, eine riesige Deutschlandfahne über seinem Kopf ausgebreitet. Jan Fitschen, der Sensationseuropameister von Göteborg über 10 000 Meter.

So empfingen sie ihn an der Uni nach dem Erfolg, dort wo Fitschen Physik studiert, wo sie ihn manchmal hochnehmen mit seiner Lauferei. Aber nicht jetzt, nicht nach diesem Triumph. „Die waren stolz wie Bolle“, sagt Fitschen.

Er hat viele solcher kleinen, gefühlvollen Szenen erlebt. Beim Joggen kommen wildfremde Menschen auf ihn zu und sagen: „Vielen Dank, dass Sie uns so einen schönen Erfolg gegeben haben.“ Als er bei einer NDR-Talkshow saß, da gratulierte ihm plötzlich ein anderer Gast. Fitschen hatte ihn noch nie gesehen, es war der Pianist Joja Wendt. „Der lief zwei Tage später einen Halbmarathon, der wusste, wie hart Leute trainieren, die schneller sind als er“, sagt der Europameister. In seinem Verein, beim TV Wattenscheid, haben ihm die anderen aus der Langstreckengruppe gesagt: „Mensch Jan, nach deinem Erfolg bin ich erst einmal in den Wald gerannt.“ Die ganze Begeisterung entlud sich in so einem Dauerlauf.

Jan Fitschen saugt solche Szenen auf, sie sind auch der Ersatz für andere Kommentare. Es gibt ja auch die Leute, die sagen, dass sein Titel eigentlich nicht so viel wert sei. Dass er doch nur 28:10,94 Minuten gelaufen sei. Ein Vorwurf schwingt da mit: 28:10,94, wie lächerlich. Der Äthiopier Kenenisa Bekele gewann 2005 in 27:08,33 Minuten den WM-Titel. Ein Verlegenheitstitel, dieses EM-Gold, so hört Fitschen immer wieder. Es wird nicht klar, wie sehr ihn das trifft. Er bleibt ziemlich freundlich bei diesem Thema. Aber der Blick verdüstert sich genug, um zu sehen, dass es ihn trifft. „Es ist ja auch ungerecht“, sagt er, „es war ein taktisches Rennen, keines auf Zeit“. Stimmt, aber die 28:10,94 Minuten waren für ihn auch persönliche Bestzeit. Er hat also alles gegeben.

Fitschen, der 29-jährige sechsmalige Deutsche Meister über 5000 und 10 000 Meter, ist ein Europameister, der keine klare Rolle besetzt. Er bedient die Emotionen, aber er bedient nicht das Kalkül. Man kann ihn nicht zur neuen Langstrecken-Hoffnung ernennen und aufbauen. Beim Istaf haben sie ihn ins Programm geholt, natürlich, er ist ein neues deutsches Gesicht. Aber Istaf-Chef Gerhard Janetzky lässt ihn nicht über 5000 Meter laufen, dort wo Bekele startet und die anderen Topstars. „Da würde er gnadenlos abserviert“, sagt Janetzky. Also hat er für Fitschen eine 3000-Meter-Konkurrenz zusammengestellt. „Da hat er Chancen, vorne dabei zu sein“, sagt der Istaf-Chef. Er will das Beste für sein Meeting und auch für die deutsche Leichtathletik, aber diese spezielle Behandlung hat auch etwas Despektierliches, fast schon Mitleidiges. Fitschen war erkältet, er weiß nicht, wie er in dem abgeschwächten Feld abschneiden wird.

Andererseits: Der EM-Titel gibt ihm ja auch Motivation. Olympia 2008, die WM 2009, dafür wird er sich quälen, obwohl er sein Studium schon auf 18 Semester ausgedehnt hat. „Meine Bestzeiten über 5000 und 10 000 Meter möchte ich verbessern“, sagt Fitschen. Seine 5000- Meter-Bestzeit liegt bei 13:26,68 Minuten.

Er muss jetzt nur noch Sport und Studium optimal koordinieren. Die Diplomprüfung fehlt noch, im Frühjahr 2007 will er sie endlich machen. Er wird dann ziemlich oft an der Uni sein, er wird vorbeigehen am Schwarzen Brett. Und die Zeitungsartikel sind dann nur noch schöne Vergangenheit. „Aber diese Zeit“, sagt Fitschen auch, „die kann mir keiner nehmen“.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false