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Patrice Evra ist der Anführer in Frankreichs Nationalteam.

© dpa

Frankreichs Anführer: Patrice Evra - vom Staatsfeind zum Volksheld

Patrice Evra war im französischen Verband verhasst. Nun kann der Abwehrspieler die Nationalmannschaft zum EM-Titel führen.

Stade de France, 21.48 Uhr. Frankreich liegt zur Halbzeit des EM-Finales gegen Portugal in Rückstand. Die junge Mannschaft kommt mit hängenden Köpfen in die Kabine, die Stimmung am Tiefpunkt. Bis einer die Stimme hebt: Patrice Evra, 35. Der Außenverteidiger stellt sich in die Kabinenmitte, schaut seinen Mitspielern tief in die Augen, appelliert an den Glauben in die eigene Stärke. Und führt seine Elf zurück auf das Feld, wo Frankreich, inspiriert von Evras Worten, die Portugiesen noch niederringt.

Ein Hirngespinst. Weder Spielverlauf noch Kabinenansprachen von Sonntagabend sind im Voraus bekannt. Nur die Rolle von Patrice Evra, die scheint zementiert: die des unangefochtenen Leitwolfs. Der Verteidiger fungiert in der Équipe Tricolore als Vaterfigur, ist bei Trainern und Mitspielern gleichermaßen respektiert und beliebt. Braucht es klare Worte, schaut die junge Garde um Paul Pogba und Samuel Umtiti nicht auf Kapitän Hugo Lloris, sondern auf den Spieler von Juventus Turin. Evra ist der Anführer, auch ohne Kapitänsbinde. Die verlor er vor sechs Jahren – und mit ihr fast seinen Platz in der Nationalmannschaft.

Evra war Rädelsführer bei der WM 2010

WM 2010, Südafrika, Gruppenphase, Frankreich gegen Mexiko. Zur Halbzeit steht es 0:0, die Équipe spielt behäbig. In der Pause kommt es in der Kabine zum Eklat: Nicolas Anelka liefert sich ein Wortgefecht mit Trainer Raymond Domenech. Laut Augenzeugen beschimpft Anelka den Coach mehrmals mit den Worten „Fick dich, du Hurensohn!“. Als er Domenechs Aufforderung nach einer Entschuldigung ausschlägt, schmeißt dieser Anelka aus dem Kader.

Patrice Evra sitzt mit in der Kabine, er bezeugt als Mannschaftskapitän den Ausraster seines Mitspielers – und schlägt sich als Rädelsführer auf die Seite Anelkas. Zwei Tage später verweigert Evra mit der Mannschaft das Training, prügelt sich vor laufenden Kameras fast mit Athletiktrainer Robert Duverne, verschanzt sich mit seinen Kollegen im Teambus. Und lässt Domenech der Presse einen Brief verlesen, in dem die Mannschaft den Ausschluss des Stürmers scharf kritisiert. Eine Demütigung.

Seine Ansprachen sind extrem motivierend

Der Trainingsstreik entwickelt sich zur Staatsaffäre. Präsident Nicolas Sarkozy beauftragt Sportministerin Roselyne Bachelot, den Skandal in Südafrika aufzuklären. „Die Reputation unseres Landes ist in Gefahr“, sagte diese nach Gesprächen mit Rädelsführer Evra und anderen Beteiligten. „Diese Spieler sind nicht länger Vorbilder für Frankreichs Jugend. Sie haben die Träume ihrer Landsleute, Freunde und Anhänger zerstört.“

Liliam Thuram, Teil der Weltmeisterelf von 1998, forderte öffentlich, Evra auf Lebenszeit aus der Nationalelf zu verbannen. Die Sportzeitung „L'Équipe“ kommentierte: „Evra hat die Funktion eines Mannschaftskapitäns mit der Rolle eines Gang-Leaders verwechselt. Er besitzt weder die Größe noch das Charisma oder die Aura für die Kapitänsbinde.“

Anelka, der Stein des Anstoßes, bekam eine Sperre von 18 Spielen aufgedrückt, Evra durfte fünf Partien nicht mitwirken. Und verlor die Kapitänsbinde, die er seitdem im Nationaltrikot nicht mehr trug. Seinen starken Charakter hat Evra durch die Affäre nicht verloren. Im Gegenteil. 2012 sorgte er erneut für Schlagzeilen. Bei einem Spiel zwischen Manchester United und Liverpool wurde der Franzose mit senegalesischen Wurzeln von Luis Suárez rassistisch beleidigt – beim nächsten Aufeinandertreffen verweigerte Evra ihm den Handschlag. Eine Geste, die millionenfach im Internet geteilt und öffentlich diskutiert wurde.

In Paris will Evra weinen - vor Glück

Trotz aller Kritik blieb Evra auch in der Nationalelf stets in einer Führungsrolle. Franck Ribéry erinnert sich, wie Evra bei einem WM-Qualifikationsspiel gegen Weißrussland 2013 in der Halbzeit laut wurde. Frankreich lag 0:1 zurück, bis der Verteidiger eine „Ansprache unter Männern“ (Ribéry) hielt – die Franzosen kamen mit Schaum vor dem Mund aus der Kabine und siegten mit 4:2.

Evra selbst sieht die Diskussion um seine Vergangenheit im Nationaltrikot pragmatisch: „Ich brauche nicht das Kapitänsamt, um meine Rolle auf dem Platz und in der Kabine auszufüllen.“

Auch 2016 füllt der Verteidiger unter Didier Deschamps, der Evra von 2002 bis 2005 bereits beim AS Monaco trainierte, sein Amt als Anführer perfekt aus. Jungstar Paul Pogba nahm der Alt-Internationale unter seine Fittiche; in Internetvideos tanzen die beiden zusammen im Mannschaftshotel, nach dem Sieg gegen Deutschland interviewten sich die beiden Spieler von Juventus Turin für einen TV-Sender gegenseitig auf Italienisch.

„Ich bin stolz auf meine Teamkollegen“, sagte Evra nach dem Halbfinalsieg. „Sie geben ihr Bestes, um mich nach einem EM-Triumph weinen zu sehen.“ In Paris könnte es nun so weit kommen. Wenn Patrice Evra, der einstige Staatsfeind, für seine Farben im Stade de France kämpft.

Thilo Neumann

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