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Isst gern. Spielt gern Ball.

© AFP

Frankreichs Anti-Star: André-Pierre Gignac: Einfacher Mann unter Stars

Feierbiest, verhinderter Müllmann, Torschützenkönig in Mexiko: André-Pierre Gignac ist alles andere als ein Profi vom Reißbrett. Die französischen Fans lieben ihn dafür.

Zugegeben, nach der ganz großen internationalen Karriere sah es für André-Pierre Gignac anfangs nicht aus. Schon gar nicht unter Didier Deschamps. „Gignac kannst du vergessen“, ätzte der damalige Trainer von Olympique Marseille in einem geleakten Telefonat mit seinem Agenten über seinen Stürmer, den er unbedingt loswerden wollte. „Wir werden ihn wie eine Bürde mit uns herumschleppen.“ Gignac, 2009 immerhin Torschützenkönig bei Toulouse, war 2010 für 16 Millionen Euro zu OM gekommen, erwies sich unter Deschamps aber als formschwach und übergewichtig. „Un Big Mac pour Gignac“, sangen die gegnerischen Fans spöttelnd, und Deschamps schickte Gignac, als er ihn nicht losgeworden war, in ein Diät-Camp nach Norditalien. Nicht eben die besten Voraussetzungen, um gemeinsam erfolgreich zu sein.

Fünf Jahre später ist Deschamps Gignacs Nationaltrainer, und dass er ihn für die EM nominierte, bezeugt einerseits Deschamps’ Sinneswandel, war andererseits aber auch für weite Teile der Öffentlichkeit eine Überraschung. Nicht nur, dass aufstrebende Stars wie etwa Lyons Alexandre Lacazette nicht nominiert wurden, Kritik brandete vor allem auf, weil Gignac seiner Fußballarbeit an einem für europäische Nationalspieler eher exotischen Ort nachgeht: Seit einem Jahr spielt Gignac für die Tigres UANL in Mexiko. Kein unbedingt normaler Karriereschritt.

Aber normal ist an Gignac wenig. Oder eben sehr viel, weswegen er bei seinen Klubs und auch in der Nationalmannschaft fast schon traditionell Publikumsliebling ist. Während seiner Zeit bei Toulouse, seiner zweiten Profistation, sprach er in einem Interview über seine Sinti-Wurzeln. Zum Entspannen, so Gignac damals, helfe er gerne seiner Schwiegermutter, die einen Marktstand betreibt. Ein Fußballprofi, der seine freien Sonntage gerne mit der Familie auf dem Markt verbringt. Und anschließend ordentlich einen draufmacht. „Gypsies lieben große Partys. Wir machen Essen für 100, auch wenn wir wissen, dass nur 30 Gäste kommen. Wir essen und trinken viel, spielen Spiele und gehen jagen.“

Was in gewisser Weise – Spielen und Jagen – auch Gignacs Spielweise auf dem Fußballfeld entspricht. Der bullige Stürmer kann eine gegnerische Abwehr einfach überrennen, ist in der Luft stark, trifft aber auch häufig von außerhalb des Strafraums und verfügt zudem über eine erstaunliche Technik. Als er 2015 in Mexiko anheuerte, dauerte es nicht lange, bis Gignac die Fans mit einem wundervollen Fallrückzieher entzückte. Es war eines von 24 Toren, mit denen er zum Torschützenkönig und die Tigres Meister wurden. Kein Wunder, dass ihn auch die mexikanischen Fans lieben.

Mittlerweile überlegt Gignac sogar, ob er die mexikanische Staatsbürgerschaft annehmen soll

Dabei könnten es nun die Fans von Arsenal oder Inter Mailand sein, die Gignac zu Füßen liegen. Beide Klubs wollten den damals 29-Jährigen im Vorjahr gerne verpflichten. Aber Gignac wäre nicht Gignac, wenn er den logischen Schritt von einem europäischen Mittelklasse- zu einem Spitzenklub gegangen wäre – und entschied sich für das Abenteuer Mexiko. „Der Klub erlaubt mir, meine Leidenschaft in einem großen Fußballland auszuleben“, erklärte er seinen Wechsel, wobei die geschätzt vier Millionen Euro Jahresgehalt ihren Teil zur Entscheidungsfindung beigetragen haben dürften.

Zudem gehe es um eine Art Botschaftertätigkeit. „Ich will beide Ligen sichtbarer machen. Die mexikanische Liga ist in Europa nahezu unbekannt, und viele mexikanische Fans kennen die französische Liga nicht. Ich wollte mit meinem Wechsel eine Tür öffnen und hoffe, dass noch weitere Spieler oder auch Trainer nach Mexiko kommen und den mexikanischen Fußball, das Land, die Kultur und die Sprache kennenlernen. Weil ich mich sehr in dieses Land verliebt habe.“

Nicht wenige Skeptiker hatten geunkt, der Schritt nach Mexiko würde das Ende der Karriere Gignacs sein. Sie hatten unrecht. Mittlerweile fühlt sich Gignac derart wohl in Mexiko, dass er überlegt, die mexikanische Staatsbürgerschaft anzunehmen. Auch sportlich hat sich der Wechsel keinesfalls als Rückschritt erwiesen. „Mexiko ist ein Fußballland, vielleicht sogar mehr noch als Frankreich“, resümierte er nach seiner ersten Saison in der Liga MX. Wie zur Bestätigung kam die EM-Nominierung seines Ex-Vereinstrainers Deschamps.

Die einstigen Animositäten sind mittlerweile übrigens ausgeräumt. „Wir haben kein Problem miteinander. Er ist ein integrer Mann“, sagte Gignac vor Kurzem der Zeitschrift „France Football“. Sehr zur Freude der französischen Fans, die die Nummer zwei im französischen Sturm hinter Olivier Giroud inbrünstig lieben und bei dessen Einwechslung gegen Albanien mit Standing Ovations empfingen. Was freilich weniger an Gignacs sieben Toren in 28 Länderspielen liegt, sondern daran, dass der Mann so wunderbar normal und menschlich geblieben ist. Einer, der auch gut und gerne im Fanblock stehen könnte, wochenends, um am Montag wieder arbeiten zu gehen. „Wäre ich kein Fußballer geworden, hätte ich vielleicht begonnen, bei der Stadt zu arbeiten“, sagte Gignac schon 2009, da war er gerade Torschützenkönig und Spieler des Jahres in Frankreich geworden. „Meine Cousins sind Müllmänner, sie verdienen ungefähr 1900 Euro im Monat und spielen sonntags Fußball. Das ist doch nicht schlecht.“

Stephan Reich

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