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Sport: Frauenfußball-EM: Ein Golden Goal fürs Vaterland

In der Sekunde des Sieges riss sich Claudia Müller ihr Trikot mit der Nummer zwölf kurz über den Kopf, sodass vor den tobenden Fans im Ulmer Donaustadion und den Fernsehzuschauern für einen Moment ihr BH im Blickpunkt war. Deutschlands Fußballerinnen waren Europameister, Müller hatte in der 98.

In der Sekunde des Sieges riss sich Claudia Müller ihr Trikot mit der Nummer zwölf kurz über den Kopf, sodass vor den tobenden Fans im Ulmer Donaustadion und den Fernsehzuschauern für einen Moment ihr BH im Blickpunkt war. Deutschlands Fußballerinnen waren Europameister, Müller hatte in der 98. Minute das Golden Goal zum 1:0-Sieg gegen Schweden erzielt. Die in der 55. Minute eingewechselte Torschützin feierte ihren Treffer so wie Brandi Chastain, die amerikanische Nationalspielerin, nach ihrem Tor beim WM-Sieg 1999. Das Foto ging damals um die Welt. Doch Vorbild war Chastain nicht für die 27-jährige Stürmerin vom VfL Wolfsburg-Wendschott. "Das habe ich ganz spontan gemacht", sagte sie und fügte mit ihrem trockenen Humor hinzu: "Ich war dann froh, dass ich einen Adidas-BH anhatte." Der Ausrüster des DFB-Teams hatte also keinen Grund zur Klage.

Als Müller das Trikot wieder ordentlich anhatte, fielen die deutschen Spielerinnen jubelnd übereinander her, während die Schwedinnen sich kollektiv just dort fallen ließen, wo sie gerade standen. Kaum zappelte der Ball im Netz, dröhnte laute Musik durchs Stadion, so als habe jemand seinen Finger die ganze Zeit auf dem entsprechenden Knopf gehabt und nur darauf gewartet, endlich draufdrücken zu dürfen. Doris Fitschen, Maren Meiner, Steffi Jones und ihre Kolleginnen rannten mit einem lila Spruchband mit der Aufschrift "Vielen Dank für eure Unterstützung" von einer Fankurve zur nächsten und bauten sich vor den teils klatschnassen Zuschauern auf. Die Fans sangen und schwenkten Fahnen, sofern sie nicht ihre Regenschirme festhalten mussten. Erst danach fiel dem Stadionsprecher ein, dass er etwas vergessen hatte, und er nannte, endlich, die Torschützin.

Als diese im EM-Halbfinale gegen Norwegen kurz vor Schluss zwei hochkarätige Chancen vergeben hatte, hatte Bundestrainerin Tina Theune-Meyer gehofft, "dass sie sich das fürs Endspiel aufgehoben hat". Sie sollte Recht behalten. In der ersten Halbzeit hatten die Deutschen bei strömendem Regen große Probleme, brachten keine Ordnung ins Spiel gegen die starken Schwedinnen und leisteten sich viele Fehlpässe. Theune-Meyer reagierte und brachte in der 55. Minute Claudia Müller für Sandra Smisek. Die Wolfsburgerin, die schon beim 3:1 im ersten Vorrundenspiel zwei Tore gegen Schweden geschossen hatte, vergab zwei dicke Chancen zur Führung, ehe sie in der Verlängerung endlich traf. Sie setzte sich nach Pass von Maren Meinert gegen Karolina Westberg durch, "dann habe ich geguckt, wo der Torwart steht, ich wollte den Ball unbedingt reinmachen."

Für Abwehrspielerin Steffi Jones, die als Spielerin des Tages ausgezeichnet wurde, war es "die Krönung, dass gerade Olivia das Tor gemacht hat. Einfache Tore schafft sie nicht, die schwierigen schon." Olivia ist Müllers Spitzname in Anlehnung an die gleichnamige Figur aus den "Popeye"-Cartoons. "Claudia läuft wie Olivia und hat auch diesen Dutt", lästerte Steffi Jones liebevoll. Bei fünf der letzten sechs Europameisterschaften hieß der Sieger Deutschland, nur 1993 triumphierte Norwegen.

Überlegen, mit vier Siegen in vier Spielen, war das DFB-Team ins Finale vorgestoßen, jeder erwartete den Titel. Mit 18 000 Zuschauern war das Donaustadion ausverkauft, rund 1200 Plätze waren aus Sicherheitsgründen gesperrt worden. Schon morgens um zehn hatten rund hundert Fans an der Stadionkasse ausgeharrt, um noch ein Ticket zu bekommen. "Das ist das letzte große Spiel für eine Weile hier", sagte einer in der Schlange betrübt. Der SSV Ulm ist nach dem Zwangsabstieg nicht einmal mehr drittklassig, da sollten eben die Frauen einmal mehr für ein tolles Spiel sorgen.

Doch "wir wollten zuviel", analysierte Theune-Meyer später, Abwehrchefin "Fitschen ist plötzlich im Sturm aufgetaucht", Spielmacherin "Maren Meinert in der Abwehr". In der Pause schwor sie die Spielerinnen auf ihre eigentlichen Positionen ein. Als die Zuschauer dann auch noch brüllten, "Wir wollen euch kämpfen sehen", lief es besser. Renate Lingor traf den Pfosten, Birgit Prinz und Claudia Müller hatten die Führung auf dem Fuß. 87 Minuten waren gespielt, als der Stadionsprecher anfing, vom Golden Goal zu erzählen und von dem Sieg der deutschen Männer durch ein ebensolches bei der EM 1996 in England. USA-Profi Doris Fitschen, die wie Meinert ihr letztes Länderspiel bestritt, bekam den Exkurs nicht mit, "ich habe gelernt, das zu überhören. In Amerika werden während der Partien über Lautsprecher Gewinnspiele gemacht."

Als Fitschen eine Stunde nach Spielschluss von der Pressekonferenz kam, standen die Fans immer noch Spalier, hielten ihr Eintrittskarten, Trikots und Programmhefte zum Signieren hin. Nicht nur die nassen Zuschauer dürften durch den Sieg versöhnt gewesen sein, auch die Arbeitskollegin von Claudia Müller. Ab und an beschwert sie sich nämlich scherzhaft bei der Nationalspielerin, dass sie zusätzliche Arbeit machen müsse, "während Sie fürs Vaterland spielen".

Helen Ruwald

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