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Sport: Freiheit zweiter Klasse

Fußball im Osten ist mehr als Hansa Rostock: Fünfzehn Jahre nach dem Mauerfall nehmen die Traditionsklubs ihr Schicksal selbst in die Hand. Die mühsame Renaissance findet in der Zweiten Liga statt.

Der Osten blüht. Die Bäume am Hauptbahnhof tragen auch jetzt, im Herbst, noch grüne Blätter. Erfurt ist eine schöne Stadt mit alten Häusern, großzügigen Alleen und geschäftigen Menschen. Der Erfurter Hof, auf dessen Balkon Willy Brandt sich 1970 feiern ließ, wird renoviert und zu einem Luxushotel umgebaut. Im Stadtteil Brühl, gleich hinterm Dom, steht das neue Opernhaus, der erste Theater-Neubau im Deutschland des 21. Jahrhunderts. Hat Helmut Kohl doch Recht gehabt mit den blühenden Landschaften im Osten? „Natürlich“, sagt René Müller. „Ich weiß doch, wie das früher hier aussah, in Erfurt, Dresden oder Leipzig. Die DDR war tot, und es ist Herrn Kohl zu verdanken, dass diese Region wieder lebt.“ Aber dann sagt René Müller, der 46-mal im Tor der DDR-Fußball-Nationalmannschaft gestanden hat und jetzt den Zweitligisten Rot-Weiß Erfurt trainiert: „All das ändert nichts daran, dass wir seit 1989 in einem besetzten Land leben. Mit allen Konsequenzen.“

Besetztes Land? Konsequenzen? Müller holt Luft und redet, zehn Minuten lang, ohne Unterbrechung. Auszüge einer Systemkritik: „Unsere Strukturen sind zerschlagen worden, die wollten uns als Konkurrenz ausschalten. Die besten Spieler sind für lächerliche Summen in den Westen verscherbelt worden, die Klubs von Westlern in den Ruin getrieben worden. Wir waren respektiert in Europa, vor fünfzehn Jahren kannte man Lok Leipzig besser als Werder Bremen. In Bremen ist investiert worden, hier wurde alles kaputtgemacht.“ Und die blühenden Landschaften? „Herr Kohl hat niemandem gesagt: Macht die Sporthochschule in Leipzig platt! Macht den Fußball im Osten kaputt! Die Einheit war ein gutes Werk, aber sie ist von schlechten Menschen gestaltet worden.“ René Müller, 46, macht eine Pause und geht zum Fenster. Sein Büro ist 1984 zum letzten Mal renoviert worden. „Schauen Sie sich das doch mal an hier, alles verrottet. Vor der Wende hatte Erfurt optimale Bedingungen. Und jetzt …“ Er spricht den Satz nicht zu Ende.

Fünfzehn Jahre nach dem Mauerfall ist im ostdeutschen Fußball nichts mehr, wie es einmal war. Aber es sah schon mal schlechter aus als heute. Die westdeutschen Klubchefs, Manager und Trainer, sie sind verschwunden aus Dresden und Leipzig, aus Erfurt und Chemnitz. Unter dem Erstligisten Hansa Rostock ist in der Zweiten Bundesliga ein ostdeutscher Zwischenbau entstanden, mit vier Traditionsklubs aus dem Süden der ehemaligen DDR. Die Renaissance gestaltet sich mühsam. Energie Cottbus, Erzgebirge Aue, Dynamo Dresden und Rot-Weiß Erfurt, sie alle stehen in der unteren Tabellenhälfte. „Die Klubs im Osten sind zerbrechliche Gebilde“, sagt René Müller. „Und daran wird sich nichts ändern. Den Wettbewerbsvorteil des Westens können wir nicht aufholen.“

Vor der Erfurter Geschäftsstelle am Steigerwaldstadion liegt ein Trainingsplatz. Hellrote Asche, hier und da Steine, kleine und größere. „Da bilden wir unseren Nachwuchs aus“, sagt René Müller. „Die Jungs, die auf das Sportgymnasium gehen.“ Er sagt das in einem Ton, bei dem die Frage mitschwingt: Würden Sie Ihr Kind auf so eine Schule schicken? In der Geschäftsstelle bietet der Verein Ein-Euro-Jobs an. „Für Botengänge und so“, erzählt die Dame im Sekretariat. Das Geld ist knapp bei Rot-Weiß. Nach dem Aufstieg in die Zweite Liga hatten sie auf neue Sponsoren gehofft. „Kein einziger hat sich gemeldet“, sagt René Müller. Der Verein hängt am Tropf der TEAG, des örtlichen Stromlieferanten. Nur der Aufstieg verhinderte die Eröffnung eines Insolvenzverfahrens. Der Etat für die Zweite Liga beträgt 5,8 Millionen Euro, ein Viertel von dem des 1. FC Köln.

Erfurts Probleme sind die aller Ostklubs. Es fehlen potente Unternehmen und mit ihnen das Geld zum Investieren. Hansa Rostock kämpft im strukturschwachen Mecklenburg-Vorpommern wie gewohnt gegen den Abstieg aus der Ersten Liga, in Cottbus ist mit der zur Neige gehenden Braunkohle fast ein ganzer Industriezweig weggebrochen, Aue ist wegen seiner Lage im engen, für Industrieansiedlung nicht geeigneten Erzgebirge schon aus geografischen Gründen benachteiligt. „Dresden hätte das Potenzial“, sagt Müller. „Aber da gibt es kein Stadion.“

Kein Stadion in Dresden? So etwas hört Reinhard Häfner gar nicht gern. Wie Müller war er ein Idol der untergegangenen DDR, 58 Länderspiele, Olympiasieger 1976 in Montreal, und auf sein Stadion lässt er nichts kommen. „Hier lebt der Dresdner Fußball“, sagt Häfner. Die Lebensumstände – nun ja. Das Rudolf-Harbig-Stadion, Baujahr 1923, ist kein Glanzstück der Architektur. Der rissige Beton wird gestützt von Stahlrohrträgern, die Aschenbahn um das Spielfeld ist noch eine Aschenbahn oder, wenn es regnet, eine Schlammbahn. Über der Tribüne hängt ein Transparent: „Rettet das Dynamo-Stadion.“

Was ist hier noch zu retten, außer der Tradition? Reinhard Häfner, 52, hat Dynamos große Zeiten in den Siebziger- und Achtzigerjahren mitgestaltet, acht Meisterschaften, sieben Pokalsiege, große Spiele im Europapokal. Er war Spieler, Trainer, Manager und zwischendurch ein paar Jahre weg. Verjagt, von Rolf-Jürgen Otto, dem Präsidenten und Baulöwen aus Frankfurt am Main, der Dynamo 1995 mit frisierten Bürgschaften von der Bundesliga in die Regionalliga führte. Er arbeite nicht mit Kommunisten, hat Otto ihm gesagt, „einfach so ins Gesicht“. Otto ist lange weg, Häfner wieder da. Seit zwei Jahren organisiert er die Jugendarbeit.

Der Aufstieg in die Zweite Liga kam im Frühling wie ein Wunder über den Klub, der vor kurzem noch vor der Zahlungsunfähigkeit stand. Dynamo kalkuliert mit 6,7 Millionen Euro, fünf Millionen sind offen an Verbindlichkeiten, zu zahlen an Michael Kölmel, den Filmhändler, der den Verein vor dem Ruin gerettet hat. Kölmel hat das neue Leipziger WM-Stadion gebaut, vorher hatte er es der Stadt Dresden angedient. Franz Beckenbauer trat im Rathaus als Fürsprecher auf, aber im Stadtrat fand das Projekt keine Mehrheit.

Nun aber bekommt Dresden doch ein modernes Stadion. Der Stadtrat will es am Ostragehege bauen, auf dem Gelände des in die Fünftklassigkeit versunkenen Dresdner SC. „Das kann man mit unseren Fans nicht machen“, sagt Reinhard Häfner. „Von denen wird da niemand einen Fuß reinsetzen“, sagt Reinhard Häfner. Der Verein hat ein alternatives Konzept vorgelegt, das erst die schrittweise Sanierung und später den Ausbau des Harbig-Stadions vorsieht. In den nächsten Wochen will der Stadtrat entscheiden. Was ist, wenn die Entscheidung gegen Dynamo ausfällt? „Dann gibt es Krieg.“ Reinhard Häfner spricht leise. Nicht drohend, eher feststellend.

Die Stadt hat kein Interesse an einem Konflikt mit den Fans. Sie hat überhaupt kein Interesse an ihnen, jedenfalls nicht an denen, die Dresden immer wieder ins Gerede bringen. Das Publikum ist jung, viele kommen aus Plattenbauvierteln wie Prohlis und Gorbitz, wo die Neonazis gern ihre Aufmärsche veranstalten. „Unsere Fans sind manchmal ein bisschen undiszipliniert“, sagt Reinhard Häfner. Vor ein paar Wochen war der Karlsruher SC zu Gast in Dresden. Nach dem Spiel wurde Jagd gemacht. Die Zeitungen waren voll mit Berichten über Böller, Holzlatten, Steine und Flaschen, die auf die Karlsruher Fans flogen. Kinder und Frauen waren unter den Angreifern.

Am Tag des Spiels gegen Rot-Weiß Essen ist das Stadion schon Stunden vor dem Spiel von privaten Sicherheitskräften umstellt. Junge Männer mit kurzen Haaren und breiten Schultern. „Jeder von denen kostet uns fünfzehn Euro die Stunde“, sagt Häfner. Es wird dann ein ruhiger Abend im Harbig-Stadion, was vielleicht auch daran liegt, dass Dynamo gewinnt. 1:0 in einem lausigen Spiel, das Tor schießt Joshua Kennedy, ein Australier, der für kleines Geld von den Amateuren des 1. FC Köln gekommen ist.

Das meiste Geld im zweitklassigen Osten wird in Cottbus ausgegeben. Mit 10 Millionen Euro kalkuliert der FC Energie, das ist nicht weit weg vom Bundesligaabsteiger Eintracht Frankfurt (12 Millionen). Das Geld ist schlecht angelegt worden. Cottbus wollte zurück in die Bundesliga und kämpft doch nur gegen den Abstieg. Jetzt kommt der FC Erzgebirge Aue ins Stadion der Freundschaft. Ost-Derby, live im Fernsehen. Eduard Geyer geht auf den Platz. Der Trainer arbeitet seit zehn Jahren in Cottbus, er hat den Verein aus der Regionalliga in die Bundesliga geführt. Alles schon vergessen? Im Fanblock halten sie Plakate hoch: „Geyer raus“.

Es sind neun Plakate, und das Fernsehen blendet sie oft und gerne ein. „Dumme Jungs“, knurrt Geyer nach dem Spiel. Energie hat 1:0 gewonnen, aber so richtig zufrieden ist Eduard Geyer nicht. „Man muss sich schon fragen, was wir uns als Verein so alles bieten lassen, Demokratie ist ja schön und gut“, aber solche Plakate… Geyer ist mal gefragt worden, was man mit Fans tun sollte, die Böller zünden und Nebelkerzen werfen. „Alle auf einen LKW und raus in eine stillgelegte Braunkohlegrube. Dann sollen sie sehen, wie sie nach Hause kommen.“ Geyer, 60, war der letzte Nationaltrainer der DDR. Er hat es nie so recht verwunden, dass nach der Wende die großen Klubs im Westen ihn nicht haben wollten. In Cottbus hat er freie Hand. Seine Spieler sagen, der Umgang mit dem Chef sei, nun ja, gewöhnungsbedürftig, er habe sich beim FC Energie eine Mini-DDR aufgebaut. „Mit seiner Menschenführung kann der Ede nur im Osten arbeiten, und da auch nur in Cottbus“, behauptet sein Erfurter Kollege René Müller.

Drei Stühle neben Geyer sitzt Uwe Leonhardt. Er hat mit Autos und Maschinen ein Vermögen gemacht und den FC Erzgebirge als Präsident in die Zweite Liga geführt. Aue hat kokettiert mit dem Außenseiterstatus, mit den kleinen Unternehmen, die in ihrer Vielzahl das Wunder wahr gemacht haben. Der FC Erzgebirge kalkuliert mit einem bescheidenen Etat von 5,8 Millionen Euro. „Wir spielen um die Existenz, die anderen um den Luxus“, hat der albanische Stürmer Skerdilaid Curri mal gesagt. Lange her. In Cottbus laufen die Erzgebirgler auf, als wären sie in Gedanken schon beim Video, das auf der Rückfahrt im Mannschaftsbus läuft. „Meine Spieler glauben wohl, sie müssten nicht mehr hart arbeiten“, sagt Trainer Gerd Schädlich. „Na, mit denen werde ich mich morgen mal unterhalten.“

So lange will Uwe Leonhardt nicht warten. Er ist nicht nur der Präsident des Klubs, er wirbt mit seinem Unternehmen auf den Trikots. Es ist sein Geld, das die Spieler verdienen, also hat er auch das Recht, ihnen die Meinung zu sagen. Er könne die Spieler ja nicht heute rausschmeißen und morgen neue einstellen, aber angemessen wäre das schon, bei dieser mangelhaften Einstellung zur Arbeit. „Das Personal muss den Wettbewerb annehmen, und wer den Leistungsanspruch nicht erfüllt, kann gehen.“ Zum Schluss sagt er noch: „Ich führe keine Sozialstation, sondern ein Profiunternehmen.“

Uwe Leonhardt, 45, ist ein Kind des Ostens, geboren und aufgewachsen im Erzgebirge. Er spricht wie die Glücksritter aus dem Westen, die dem Erfurter René Müller nach der Wende das Weiße in die Augen getrieben haben.

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