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Sport: Freud und Leid der Janine Pietsch

Die deutsche Schwimmerin holt bei der Europameisterschaft Gold über 50 Meter Rücken und ärgert sich über einen verpassten Weltrekord

Als die deutsche Nationalhymne ertönte, musste Janine Pietsch mit den Tränen kämpfen. Es klappte also doch noch mit dem Glücksgefühl. Eine Viertelstunde zuvor hatte die 24-Jährige Gold über 50 Meter Rücken gewonnen, sie hatte bei der Schwimm-Europameisterschaft in Budapest ihre erste Einzelmedaille auf der 50-Meter-Bahn geholt, dazu noch in ihrer zweitbesten Zeit (28,36 Sekunden) – und dann fluchte sie. Ein derbes Schimpfwort war ihr erster Kommentar. Fünf Minuten später verkündete sie: „Da kann man sich erstmal nicht freuen.“ Ihre persönliche Bestzeit ist zugleich der Weltrekord (28,19), und den hätte sie verbessern können. Aber sie hatte ihren Anschlag verpatzt, deshalb war sie sauer. „Sonst hätte ich Weltrekord geschwommen“, sagte sie. Vor allem hätte sie den Rekord dann allein gehabt. Den jetzigen muss sie sich mit der Weißrussin Aleksandra Herasimenia teilen. Die wurde Zweite (28,72). Bronze gewann Antje Buschschulte aus Magdeburg (28,73).

Silber für die Deutschen steuerte gestern Annika Liebs (Würzburg) über 200 Meter Freistil bei. Die 26-Jährige verbesserte mit 1:57,48 Sekunden ihre persönliche Bestzeit, blieb aber hinter der Polin Otylia Jedrzejczak (1:57,25). Die zeigte bei der Siegerehrung mit dem Finger zum Himmel. Die 23-jährige Olympiasiegerin über 200 Meter Schmetterling hatte im Oktober 2005 bei einem Autounfall ihren 19-jährigen Bruder verloren. Otylia Jedrzejczak saß selber am Steuer. Als sie überholen wollte, kam ihr ein Auto entgegen. Sie verlor die Kontrolle über ihr Fahrzeug und prallte gegen einen Baum. Während ihr Bruder auf dem Beifahrersitz starb, erlitt sie schwere Verletzungen. Von denen hat sie sich körperlich erholt, die seelischen dürften aber noch länger anhalten. Die Französin Laure Manaudou, die schon drei Titel gewonnen hat, wurde Dritte (1:58,38).

Helge Meeuw kam über 200 Meter Rücken lediglich auf Platz fünf (1:59,70). Der 21-Jährige aus Wiesbaden verlor zudem noch seinen Europarekord an den Russen Arkady Wjatschanin, der in 1:55,44 gewann. Meeuw war an diesem Tag bei den Deutschen nur eine sportliche Randnotiz. Im Mittelpunkt stand Janine Pietsch, und wie Meeuw hat sie einen steilen Aufstieg hinter sich. Im Februar 2005 war sie völlig überraschend Weltrekord geschwommen, nach Jahren, die sie eher in der Unauffälligkeit verbracht hatte, jedenfalls auf der 50-Meter-Bahn. Bei der Weltmeisterschaft 2005 startete sie dann als große Favoritin ins Finale über 50 Meter Rücken, als Sechste kletterte sie aus dem Pool. „Jetzt im Nachhinein muss ich sagen, dass der Weltrekord damals eher eine Belastung war. Damals habe ich das nicht so gesehen. Aber der Druck war einfach zu groß“, sagte sie. Gestern hatte eher Steffen Pietsch Druck, in Personalunion Vater und Heimtrainer. „Der war aufgeregter als ich“, sagte die Tochter. Antje Buschschulte war mit Bronze überaus zufrieden. Wegen Trainingsrückstandes „war einfach nicht mehr drin“, sagte die Magdeburgerin.

Auch bei Annika Liebs war nicht mehr drin. Sie klammerte sich nach ihrem zweiten Platz erschöpft an die Haltestangen ihres Startblocks. Sie hatte im 50-Meter-Becken noch nie in einem Finale gestanden, und jetzt Silber, „das ist völlig okay“. In der 4-x-200-Meter-Freistil-Staffel war sie zwar die schnellste Zeit geschwommen, die jemals auf der Welt über diese Distanz erreicht worden ist (1:55,64), „doch ein Einzelrennen ist etwas völlig anderes“. Aber: Silber über 200 Meter Freistil, wer hätte damit vor einem Jahr gerechnet? Da war Annika Liebs als mäßig erfolgreiche Rückenschwimmerin bekannt. Es war ohnehin bemerkenswert, dass sie überhaupt noch im Wasser war. Hartnäckige Schulterprobleme hätten die Würzburgerin vor rund fünf Jahren fast zum Aufhören gezwungen.

Aber dann wechselte sie den Trainer. Ihr Freund Stefan Lurz übernahm die Betreuung und ließ sie mehr an Land und dort vor allem in dem Fitnessstudio trainieren, das neben der Würzburger Schwimmhalle steht. Vor allem aber hat sich ihr Selbstbewusstsein vergrößert. Freilich gehörte dazu nicht viel. Annika Liebs hatte bei der WM 2005 zwar mit der 4-x-100-Meter-Freistil-Staffel Silber gewonnen, aber auf dem Siegerpodest hätte sie sich am allerliebsten hinter den anderen versteckt. Damals blickte sie sogar noch auf dem Startblock zur Tribüne. Sie brauchte den aufmunternden Blick ihres Trainers. So schlimm ist es jetzt nicht mehr. „Aber bis zwei, drei Minuten vor dem Start braucht sie mich noch, anders geht es halt immer noch nicht“, sagte Lurz. Also gab er ihr gestern noch mit auf den Weg, sie solle locker bleiben, richtig ausatmen und ihre Taktik durchhalten. Vor allem aber sagte er ihr, „dass es Wichtigeres gibt als ein solches Rennen“. Das ist wohl wahr: Am Donnerstag heiraten Annika Liebs und Stefan Lurz.

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