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Bild der Verwüstung. Die Bevölkerung war vor dem Anschlag gewarnt worden.

© Reuters

Fußball-EM 1996: Bombenexplosion in Manchester: Viel Lärm, dann nichts

Während der EM 1996 explodierte in Manchester die größte Bombe der IRA in England. Doch davon ließen sich die Engländer ihr Turnier nicht kaputt machen.

Dieser Artikel erschien am 5. Juni 2012 kurz vor der Fußball-EM in Polen und der Ukraine. Der Text gehörte zu einer Reihe, mit der der Tagesspiegel auf Besonderheiten vergangener Turniere zurückblickte.

Ein paar Stunden später war es wieder laut. Alan Shearer hatte im Londoner Wembleystadion gerade England gegen die Schotten im zweiten Gruppenspiel der EM in Führung gebracht, auch vor den Riesenleinwänden am Trafalgar Square und in den Pubs im ganzen Land entlud sich in diesem Moment am Nachmittag des 15. Juni die Spannung. Kaum jemand dachte in dem Augenblick an die Bombe, außer vielleicht jene, die zu den mehr als 200 Verletzten zählten.

Ein paar Stunden zuvor waren in der Innenstadt von Manchester während der Einkaufszeit 1500 Kilogramm Sprengstoff in einem geparkten Lieferwagen detoniert. Die Irisch-Republikanische Armee IRA hatte eine Stunde zuvor vor ihrer Bombe gewarnt, 80 000 Menschen wurden in der Stadtmitte schnellstens evakuiert. Es gab keine Todesopfer bei dem Anschlag mit der größten Bombe, die jemals in England explodiert war, wohl auch deshalb war er nicht lange das dominierende Thema. Die englische Boulevardpresse wärmte nach einem Tag mit einer blutverschmierten Frau in weißer Bluse auf den Titelseiten weiter wie üblich bei großen Turnieren die alten Ressentiments aus dem Zweiten Weltkrieg auf; am nächsten Tag spielte die deutsche Mannschaft in Manchester gegen Russland, das 3:0 war nicht viel mehr als ein gewöhnliches Vorrundenspiel. Zum Anschlag war von den Deutschen nur zu hören, dass glücklicherweise gerade keine mitgereisten Spielerfrauen in dem völlig zerstörten Einkaufscenter, vor dem die Bombe hochging, shoppen waren. Es war nur noch ein Gerippe aus verbogenem Stahl und angekokeltem Beton. Das Center stoppte denn auch seine Werbekampagne mit dem Slogan „Erwarte das Unerwartbare.“

In Manchester gab es so etwas wie verstohlene Dankbarkeit

Trotz des x-ten Anschlags der paramilitärischen IRA, die ihren politischen Arm Sinn Fein wohl mit an den Tisch bei den gerade wieder laufenden Friedensgesprächen bomben wollte und das Gegenteil erreichte, war die Karnevalsstimmung in England nicht getrübt, Fußball und der scheinbar ewig dauernde Nordirland-Konflikt waren völlig verschiedene Dinge. Es war keine Trotzreaktion, um dem Terror die Stirn zu bieten, es wurde einfach weiter „Football is coming home“ gesungen, weil eben Party war. Heute erinnert man sich vor allem in Manchester an die Bombe, die in der Umgebung Türen und Fenster herausriss. „Wir haben die Holländer geschlagen, wir werden auch die IRA schlagen“, war damals auf einem Schild in einem fensterlosen Haus zu lesen.

In der Stadt gab es nach dem Anschlag sogar so etwas wie verstohlene Dankbarkeit. Zwar war im Zuge der dann gescheiterten Olympiabewerbungen für 1996 und 2000 schon einiges gebaut worden. Nach dem Anschlag mussten aber zusätzlich 20 000 Quadratmeter der Innenstadt abgerissen werden. Die Trümmerfläche im Herzen der Stadt eröffnete die Möglichkeit für ein großes städtebauliches Wiederauf- und Umbauprogramm.

In Deutschland denkt man heute in der kollektiven Erinnerung an das Turnier nur daran, dass den englischen Spielern im Halbfinale gegen Deutschland im Elfmeterschießen wie üblich die Nerven versagten oder an das Golden Goal von Oliver Bierhoff im Endspiel gegen Tschechien beim bislang letzten Titelgewinn. Fußball war noch Fußball, Politik Politik und Terror wurde meist anders bezeichnet. Niemand will auch heute vor einem Sportereignis über die inzwischen größere Gefahr sprechen – um das Unheil nicht herbeizureden. Sport und damit auch Fußball sind nicht nur potenzielle Terrorziele, sondern auch Teil der wirklichen Welt, das weiß man nicht erst seit Manchester.

Inzwischen sagt der deutsche Mannschaftskapitän Philipp Lahm politisch korrekte Worte zu den Menschenrechten in der Ukraine und der prominenten Gefangenen Julia Timoschenko, damals wäre niemand auf die Idee gekommen, Kapitän Jürgen Klinsmann nach seiner Meinung zum Nordirland-Konflikt zu befragen, nicht einmal allgemeine Aussagen über das Übel von Bombenattentaten wurden von einem Fußballer erwartet. Das ist mehr ein Unterschied zwischen den Zeiten als den jeweiligen Personen. Jetzt rechnet auch Philipp Lahm damit, dass die innenpolitischen Zustände in der Ukraine die EM überschatten.

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