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Frisch und präzise. Leroy Sané ist wahnsinnig schnell und wahnsinnig gut im Dribbling.

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Fußball-EM 2016 in Frankreich: Joachim Löw, wie wär’s mit Kimmich oder Sané?

Joachim Löw hat bisher auf umfangreiche Wechsel verzichtet, dabei öffnet ihm sein Kader doch viele Möglichkeiten. Sechs Vorschläge für den Bundestrainer.

Als Bundestrainer hat Joachim Löw eine große Lust daran entwickelt, den Deutschen ein paar Aphorismen zum Fußball zu hinterlassen. Eine seiner bekanntesten Wendungen lautet: „Der Laufweg bestimmt den Pass – nicht umgekehrt.“ Der Satz klingt nicht nur gut, er taugt im übertragenen Sinne auch fürs normale Leben, zum Beispiel für Welt- und Europameisterschaften. Man kann natürlich völlig unvoreingenommen in ein solches Turnier gehen und erst mal gucken, was passiert. Man kann dem Turnier durch den perfekten Laufweg aber auch schon mal vorgeben, wo der Ball hinrollen muss. Löw hat es darin zu einer gewissen Meisterschaft gebracht. Vor zwei Jahren in Brasilien hat er die Spezialkräfte erfunden, die Deutschland dann im Finale zum WM-Titel geschossen haben. Für die EM in Frankreich nun hat der Bundestrainer Abnutzungskämpfe angeordnet, auf die es mit umfangreichen personellen Wechseln von Spiel zu Spiel zu reagieren gelte. Bisher hat Löw auf solche Wechsel allerdings weitgehend verzichtet. Dabei eröffnet ihm sein Kader einige Möglichkeiten, schon für das letzte Gruppenspiel heute gegen Nordirland.

Dreier- statt Viererkette

Variabilität, Flexibilität – das waren ein paar der Begriffe, die einem in Löws Verlautbarungen während der Vorbereitung immer wieder untergekommen sind. Im Idealfall soll seine Mannschaft sogar im Spiel zwischen verschiedenen Systemen hin- und herwechseln können. In der Realität aber haben die Deutschen wie gehabt mit einer Viererkette verteidigt, obwohl inzwischen auch die Dreierkette vom Bundestrainer die offizielle DIN-Zertifizierung erhalten hat. Mit dieser Variante würde ein Mann fürs Mittelfeld frei, die Außenverteidiger könnten noch höher stehen und sich verstärkt in die Offensive einschalten. So weit die Theorie. Und Theorie wird die Dreierkette auch erst einmal bleiben. „Dreierkette ist kein Thema gegen Nordirland“, sagt der Bundestrainer. Drei Innenverteidiger gegen nur einen nordirischen Stürmer – das käme Löw arg verschwenderisch vor.

Kimmich für Höwedes

Es ist nicht bekannt, ob Philipp Lahm seine Ankündigung wirklich wahr gemacht hat; ob er bei den EM-Spielen der Deutschen tatsächlich vor dem Fernseher sitzt und in der Pause schnell noch ein Steak auf den Grill schmeißt. Bekannt ist nur, dass Lahm mit jedem weiteren Spiel vermutlich noch ein bisschen mehr vermisst wird. Der Münchner hat über mehr als ein Jahrzehnt Maßstäbe gesetzt als Außenverteidiger, ganz egal ob er links oder rechts gespielt hat. Lahm war ein Spielmacher von der Außenposition – und damit so ziemlich das exakte Gegenteil zu Benedikt Höwedes, der als Absolvent der deutschen Vorstopperschule die Leerstelle auf Außen irgendwie ausfüllen soll.

Der Schalker ist ein verlässlicher Knappe. Oder in den Worten des Bundestrainers: „Benedikt Höwedes macht das, was er machen muss. Ich weiß, was ich an ihm habe.“ Er verteidigt solide, ist seriös, kopfballstark. Allerdings, so Löw, könne man von ihm „nicht erwarten, dass er ständig nach vorne rennt, Überzahl schafft und Flanken schlägt“. Im Spiel gegen Polen gab es eine Situation, in der Höwedes perfekt in den gegnerischen Strafraum startete, mit seinem Laufweg den entsprechenden Pass erzwang – sich dann aber mit einer unsauberen Ballannahme alles wieder kaputt machte. Löw drehte erbost ab und schlug die Hände vors Gesicht.

Eine Alternative für diese Position wäre der junge Münchner Joshua Kimmich, der mit seiner Herkunft als defensiver Mittelfeldspieler schon eher über lahmähnliche Fertigkeiten verfügt. „Im Training macht er einen guten Eindruck“, sagt der Bundestrainer, weshalb er auch keine Bedenken hätte, ihn ins Spiel zu bringen. Kimmich könnte vor allem die Offensive über rechts anschieben – zumal Löw selbst nach dem 0:0 gegen Polen festgestellt hat: „Unser Spiel ist im Moment etwas linkslastig.“

Aber bitte mit Sahne

Die schwere Linkslastigkeit hat das Spiel der Deutschen ein Stück weit berechenbar gemacht. Das liegt zum einen an der Position von Toni Kroos, der meist im halblinken Feld Regie führt, wodurch der Spielaufbau einen leichten Linksdrall bekommt. Zum anderen an der Besetzung der rechten Seite mit Benedikt Höwedes und Thomas Müller, den es oft in die Mitte zieht. Mit der Hereinnahme des Schalkers Leroy Sané, den Joachim Löw beharrlich „Leroy Sahne“ nennt, könnte der Bundestrainer gleich zweierlei bewirken: Er würde das Flügelspiel auf rechts durch einen dynamischen Offensivspieler beleben und würde einen Spieler bringen, der dem Löw’schen Verständnis nach ein typischer Eins-gegen-eins-Sucher ist. Also ein Spieler, der das Dribbling und immer wieder Laufwege in die Tiefe sucht. Denn auch das wurde zuletzt als Handicap identifiziert, wenn es darum geht, defensive Bollwerke zu knacken. „Der Bundestrainer wird wissen, wo wir der Mannschaft helfen können“, hat Sané neulich fast etwas beiläufig gesagt. Dass der Schalker mit einem gemessenen Top-Speed von 34,97 Stundenkilometern der beste Sprinter im deutschen Team ist, spricht jedenfalls nicht gegen ihn.

Kroos in die Offensive

Joachim Löw hat etwas gebraucht, bis sich bei ihm die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass die Frage nicht mehr lautet, ob Toni Kroos spielt, sondern wer an seiner Seite spielt. Erst nach der EM 2012, bei der Kroos nur sporadisch zum Einsatz kam, hat sich der damalige Münchner ins Zentrum der Nationalelf gespielt. Bei der WM 2014 wurde er anfangs noch von Philipp Lahm flankiert, ehe die angeschlagenen Sami Khedira und Bastian Schweinsteiger fit für den Wettkampf wurden. Beide spielten auf der Doppelsechs, Kroos rückte vor auf die Spielmacherposition und überzeugte dort mit selbst erzielten Toren und einigen Assists. In Frankreich hat Löw diese Position jetzt Mesut Özil anvertraut – mit recht überschaubarem Erfolg. Insofern stellt sich die Frage, warum Löw seinen wichtigsten Passgeber nicht wieder auf die Spielmacherposition schiebt?

Toni Kroos ist nicht ganz so schnell, dafür aber mit seinen Zuspielen extrem präzise und deshalb auch ein Mann für eine offensivere Position.
Toni Kroos ist nicht ganz so schnell, dafür aber mit seinen Zuspielen extrem präzise und deshalb auch ein Mann für eine offensivere Position.

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Der Bundestrainer winkt ab. Er sieht Kroos in der Defensive als Gelenk für die Mannschaft, als zentrales Verbindungsstück zwischen Abwehr und Angriff, der gleichsam für die Spielverlagerung zuständig ist. Natürlich kann Kroos diese Aufgabe mit seiner Auffassungsgabe, seinem spielerischen Verständnis und seiner Präzision im kurzen wie im langen Pass hervorragend ausfüllen. Doch ist Kroos auf einer Position, die näher am gegnerischen Tor liegt, nicht noch wertvoller? Er käme hier öfter zum Abschluss und hat längst bewiesen, dass er die kurzen Anspiele in die Spitze trefflich beherrscht – besser als Mesut Özil derzeit.

Mehr Jugend

82 Spieler haben in den zehn Jahren unter Löw in der Nationalmannschaft debütiert. Das ist eine stolze Zahl und lässt vermuten, dass der Bundestrainer ein Freund und Förderer von Talenten ist. Doch bei diesem Turnier ist davon noch nichts zu spüren. Zwar lobt er Spieler wie Leroy Sané, 20 Jahre, Joshua Kimmich, 21, Julian Weigl, 20, und Jonathan Tah, 20, bei jeder sich bietenden Gelegenheit, doch zum Einsatz kam in Frankreich noch keiner von ihnen. „Für die ganz jungen Spieler ist das eine besondere Drucksituation bei so einem Turnier“, hat Löw eben erst gesagt. Man müsse daher genau überlegen, wann der richtige Zeitpunkt gekommen sei, ihnen einen EM-Auftritt zuzumuten. Aber was, bitte, ist dann eine WM? Vor sechs Jahren, beim Turnier in Südafrika, warf Löw gleich ein halbes Dutzend junger Spieler ins Turnier. Manuel Neuer, Mesut Özil, Jérôme Boateng, Sami Khedira, die gerade Europameister mit der deutschen U 21 geworden waren, dazu Neulinge wie Thomas Müller und Holger Badstuber. Sie waren damals nicht älter als Kimmich und Co. heute. Sie brachten damals die Empfehlung mit, in ihren Bundesligaklubs Stammspieler zu sein, aber das trifft auf Weigl, Kimmich, Tah und Sané eben auch zu. Was hält Löw also davon ab, für Belebung und einen Tick Unbekümmertheit von außen zu sorgen?

Was machen? Der Bundestrainer hat die Qual der Wahl.
Was machen? Der Bundestrainer hat die Qual der Wahl.

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Zwei Stürmer statt einem

Die Debatte „echte oder falsche Neun“ ist zu einer Grundsatzfrage geworden; im Moment verfestigt sich im interessierten Publikum mehr und mehr die Sehnsucht nach einem echten Mittelstürmer: Mario Gomez anstelle von Mario Götze also. Ob das gegen die Nordiren allerdings den erwünschten Effekt bringen würde, bezweifelt der Bundestrainer. Das Problem gegen Polen war in seinen Augen nicht, dass die Deutschen mit einer falschen Neun gespielt haben; das Problem war, dass seine Mannschaft nicht genügend Spieler im Strafraum hatte. Dieses Problem ließe sich beheben, wenn Löw zwei Stürmer – also Götze und Gomez – aufbieten würde. Obenrum wird man den nordirischen Abwehrkanten kaum beikommen können, selbst Gomez nicht, obwohl der über eine ganz andere körperliche Präsenz verfügt als der vergleichsweise zierliche Götze. Dessen Fähigkeit, sich in engen Räumen zu behaupten, wird auch gegen Nordirland wieder benötigt. Vielleicht sogar noch ein bisschen mehr als bisher schon.

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