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Ein Extremist auf der Trainerbank. Joachim Löw hat mit dem 3-5-2-System gegen die Ukraine nur auf den ersten Blick ein ungewöhnliches Experiment gewagt. In Wirklichkeit wollte er ein Szenario simulieren, das seinem Team schon bei der EM im Sommer droht.

© dapd

Nach dem Test gegen die Ukraine: Löw übt den Ernstfall vor dem Ernstfall

Bundestrainer Joachim Löw versucht der Nationalmannschaft dominanten Fußball beizubringen – die Umstände zwingen ihn dazu.

Berlin - Joachim Löw ist ein Trainer, der sich nicht gerne von Zufällen überraschen lässt. Genauso wenig sollte man hinter seinen Entscheidungen Zufall vermuten, nicht einmal hinter den vermeintlich unscheinbaren. Als Löw am Freitag in Kiew Mario Götze und Mesut Özil gemeinsam vom Platz holte, tat er vermutlich auch das mit Bedacht. Beide waren zusammen aufs Feld gekommen, also mussten beide auch gemeinsam runter. Götze und Özil, das war vorab eines der zentralen Themen dieses Spiels gewesen. Und das wollte Löw im Nachhinein nicht entwerten, indem er den einen länger auf dem Platz gelassen hätte als den anderen. „Beide haben viele Angriffe initiiert“, sagte der Bundestrainer nach dem 3:3 (1:3) der Fußball-Nationalmannschaft gegen die Ukraine. Das Experiment mit beiden Feintechnikern in der Startelf bewertete er als durchaus gelungen. „In der zweiten Hälfte haben wir sehr druckvoll gespielt – wegen Götze und Özil“, sagte Löw.

Nach dem Geschmack des Publikums hätte ruhig noch ein bisschen mehr herausspringen dürfen. Nicht immer war das Zusammenspiel so auffällig wie in der Anfangsphase, als Özil mit einem Lupfer eine Chance des Dortmunders einleitete. Nach der Pause revanchierte sich Götze mit einer Vorarbeit für Özil. Ihren Gemeinsinn demonstrierten die beiden Offensivspieler aber vor allem vor dem 0:1, als sie im Sprint in den eigenen Strafraum zurückeilten, um helfend einzugreifen, während die Abwehrfachkraft Dennis Aogo staunend umherschlich und nicht recht zu wissen schien, was er eigentlich zu tun hatte.

Es war nicht das einzige Mal, dass der Hamburger einen reichlich verschnarchten Eindruck machte; auch vor dem 0:2 folgte er einem Laufweg, der sich, wenn überhaupt, nur ihm selbst erschloss. Aogo konnte als mildernden Umstand geltend machen, dass er auf einer ungewohnten Position spielen musste. Weil Löw die Vierer- zur Dreierkette gestutzt hatte, rückte der ausgebildete Linksverteidiger ins Mittelfeld vor; bei ukrainischem Ballbesitz allerdings sollte er sich auf eine Reihe mit den drei Abwehrspielern zurückfallen lassen. Von Aogo war das an diesem Abend eindeutig zu viel verlangt, und dass er am Dienstag im letzten Länderspiel des Jahres gegen Holland erneut vorspielen darf, ist allein der Tatsache geschuldet, dass Marcel Schmelzer, der zweite mögliche Vertreter von Kapitän Philipp Lahm auf der linken Seite, wegen einer Wadenverletzung ausfällt. Miroslav Klose, Marco Reus und Manuel Neuer rückten dafür gestern absprachegemäß im Quartier der Nationalmannschaft in Hamburg ein.

Löw verteidigt sein taktisches Experiment

Der Bundestrainer verteidigte sein taktisches Experiment mit einer 3-5-2-Formation, das mangels eines zweiten echten Stürmers eher ein 3-5,5-1,5- System war. „Ich war sehr zufrieden, absolut“, sagte Löw, „auch wenn ich jetzt vielleicht einer der wenigen bin.“ Die Schwächen bei den Gegentoren vor der Pause führte er nicht auf Mängel im System zurück, sondern auf individuelle Fehler und taktisches Fehlverhalten. Das 0:1 und das 0:2 fielen jeweils nach Ecken – für die Deutschen; das 1:3 resultierte aus einem Fernschuss.

Als Folge des Systems sah der Bundestrainer eher die „unglaubliche Dominanz“ seiner Mannschaft, die am Ende aus dem 1:3 noch ein 3:3 machte. Genau das hatte Löw bezweckt. Er wollte ein Szenario simulieren, das auch bei der EM auf sein Team zukommen könnte, also „den Ernstfall vor dem Ernstfall“ proben. „Auch während eines Turniers gibt es Situationen, wo man hinten einmal einen Abwehrspieler rausnehmen muss“, sagte der Bundestrainer. In einem K.-o.-Spiel zum Beispiel, wenn die Mannschaft in Rückstand gerät und der Gegner mit komplettem Personal den eigenen Strafraum verrammelt, so wie es die Ukrainer von der ersten Minute an taten. Die Taktik der Gastgeber war ein weiterer Beleg dafür, dass die Deutschen im internationalen Fußball inzwischen ganz anders wahrgenommen werden. Sie befinden sich längst nicht mehr in der bequemen Außenseiterrolle, die sie noch bei der WM in Südafrika perfekt gespielt haben. Sie werden jetzt viel häufiger selbst das Spiel machen, Dominanz entwickeln müssen. Daran arbeitet Löw gerade.

Das Problem war, dass er in Kiew personelle und taktische Experimente miteinander verknüpfte. Die neuen Positionen, die vorgeschobenen Außenverteidiger, wurden von Dennis Aogo und Christian Träsch besetzt, zwei Spielern die nicht zur ersten Reihe gehören, sich aber auch noch einmal zeigen dürfen sollten – und die dem offensiveren Auftrag nicht mal im Ansatz gerecht wurden. Die Idee, einen offensiven Spieler mehr auf dem Feld zu haben und dadurch ein Übergewicht im Mittelfeld zu schaffen, wurde dadurch in ihr Gegenteil verkehrt. Dank Träsch und Aogo hatten die Deutschen nicht nur drei Verteidiger auf dem Platz, sondern fünf.

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