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Patrick Battiston

© dpa

Fußball-Geschichte: Das Monster von Sevilla

Vor 25 Jahren rannte Toni Schumacher den Franzosen Patrick Battiston über den Haufen – und ließ damit antideutsche Ressentiments wieder aufleben

Ein Schmunzeln kann sich Toni Schumacher nicht verkneifen. „Unglaublich“, sagt der heute 53-Jährige. Ein wenig skurril findet es der 76-malige Torhüter der deutschen Fußball-Nationalmannschaft schon, dass diese eine Szene vor einem Vierteljahrhundert heute noch ein Thema ist. Einerseits. Andererseits hat dieses eine Foul am 8. Juli 1982 ja eine mittlere Staatskrise ausgelöst. Dieses Foul am französischen Mittelfeldspieler Patrick Battiston in der 58. Minute des WM-Halbfinals in Sevilla, mit dem er, wie er später in seiner 1987 erschienenen Autobiografie „Anpfiff“ schrieb, innerhalb von einer Minute zu einer „Bestie“ wurde, zum „Monster von Sevilla“. Und damit verloren geglaubte antideutsche Ressentiments weckte. Um die folgende bittere Niederlage im Elfmeterschießen leichter zu bewältigen, erinnerte er sich fünf Jahre danach, verkauften die Franzosen ihn danach „als eine Art Mini-Hitler. Kein deutscher Bundeskanzler hätte – selbst mit größter Mühe – so viel Porzellan zertrümmern können.“

Bevor er sich erinnert an diesen Albtraum, sagt er festen Blickes: „Eines vorweg: Ich würde genauso wieder hingehen, das sage ich nach 25 Jahren genauso wieder.“ Und dann erzählt er von dieser weiten Flanke des Regisseurs Michel Platini, und dass er sich sicher war, den Ball vor dem heranstürmenden Battiston zu erreichen. Doch der sieben Minuten zuvor erst eingewechselte Battiston berührte den Ball zuerst, traf ihn aber nicht voll, und so trudelte der Ball langsam gen Tor – und strich schließlich knapp am rechten Pfosten vorbei. Die 60 000 Zuschauer schauten gebannt auf den Ball, im Stadion blieb das gleichzeitige Foul zunächst unbemerkt: Schumacher, der mit einem wilden Sprung hinausgestürzt war, konnte den Zusammenprall nicht mehr verhindern. „Ein Torwart ist ja kein Flugzeug“, heißt es in seinem Buch, „mit angezogenen Knien flog ich auf Battiston zu. Wenn ich ihn frontal getroffen hätte, wäre es für ihn noch schlimmer gekommen. Im letzten Moment konnte ich mich noch drehen und traf ihn dann mit Po oder Hüfte am Kopf.“ Dann lag Battiston da. Bewegungslos. Wie tot. Die französischen Spieler waren fassungslos, hatten Angst um das Leben ihres Kollegen.

Die Reaktion Schumachers, der nicht einmal eine Gelbe Karte erhielt, machte ihn zur Inkarnation des „hässlichen Deutschen“. Scheinbar ungerührt trottete er zu seinem Tor zurück, lehnte kaugummikauend am Pfosten, hin und wieder prellte er den Ball. „Ich stand im Tor, spielte verlegen mit dem Ball. Das war Feigheit. Vielleicht war ich da zum ersten Mal in meinem Leben wirklich feige“, schrieb er. „Da waren viele französische Spieler, meine Befürchtung war, die Situation würde eskalieren“, erinnert er sich, „heute würde ich mich anders verhalten“. Drei Minuten später wird der immer noch regungslose Battiston vom Feld getragen. Sein Kapitän Platini hält ihm den Arm, der immer von der Trage fiel.

Dann, nach dem gewonnenen Elfmeterschießen, nach dem Jubel, der grenzenlos war, weil das Team von Bundestrainer Jupp Derwall einen 1:3-Rückstand in der Verlängerung ausgeglichen hatte in diesem Jahrhundertspiel, der zweite folgenreiche Fehler. Noch auf dem Rasen sprach ihn ein Journalist auf Battiston an, der Franzose habe zwei Zähne verloren. Daraufhin sagte Schumacher diesen berühmten Satz: „Wenn es nur das ist, bin ich gerne bereit, ihm Jacketkronen zu kaufen.“ Das sei nicht böse gemeint gewesen, sagt er heute, „ich war einfach nur erleichtert, dass nicht mehr passiert war.“ Doch die Presse reagiert entsprechend. „Toni Schumacher, Beruf Unmensch. Er ist ein kleiner armseliger Wicht, ein Schwächling, der es nötig hat, andere zu verletzen“, schrieb beispielsweise die Sportzeitung L’Equipe.

Von diesen Dimensionen ahnt von den Spielern und Funktionären an diesem Abend keiner etwas. Keiner vom DFB-Stab bittet Schumacher zur Entschuldigung ins Krankenhaus, wo Battiston mit Wirbelbruch und Gehirnerschütterung liegt. Sie fliegen sofort nach Madrid, zum Finale. Erst dort erkennt Schumacher, was er angerichtet hat – während eines Telefonats mit seiner Mutter. „Es war schlimm, Harald. Es hat ganz übel ausgesehen, Junge.“ Sie hat diese vielen Wiederholungen im Fernsehen gesehen, die ihren Sohn als Unmensch zeichneten. Dass die Deutschen danach das Finale mit 1:3 gegen Italien verlieren, gerät zur Nebensache. Waren doch, so schrieb der Fußballhistoriker Schulze-Marmeling später, „die Bösewichte der Weltgeschichte mit diesem Spiel auch zu den Bösewichten des Weltfußballs geworden“. Auch angesichts des vorangegangenen Skandalspiels von Gijon, als die Deutschen durch einen Nichtangriffspakt gegen Österreich (1:0) die Zwischenrunde erreichten.

Als sich Schumacher ein paar Wochen später bei Battiston entschuldigte, erschienen in Metz mehr als 100 Journalisten, 20 Kameras filmen den Händedruck. Bis sich der Zorn des Publikums legte, dauerte es jedoch Jahre. Schumacher wurde „mit Psychoterror am Telefon verfolgt. In Briefen drohte man mir die Entführung meiner Kinder und Terroranschläge gegen meinen Klub an“ – Deutsche wohlgemerkt, nicht Franzosen. In allen Stadien wurde der Keeper gellend ausgepfiffen. Als die deutsche Mannschaft im April 1984 in Straßburg ein Freundschaftsspiel absolvierte, sah Schumacher bei der Fahrt dorthin „Hetzparolen und Hakenkreuze. Mal wieder ‚Nazi‘, ‚Dachauscherge vom Dienst’“, blanker Hass empfing ihn dann auf den Rängen. „Hinter meinem Tor hing eine Schumacher-Puppe an einem Galgen.“ Doch er hielt großartig an diesem Tag, so gut, dass ihm nachher fast alle Zuschauer applaudierten. Battiston gab ihm während des Spiels demonstrativ einen Klaps, in der Kabine tauschten sie dann ihre Trikots.

Zwei Jahre nach Sevilla war die Geschichte eines Fouls, das politische Turbulenzen auslöste, zu Ende erzählt. 1987, nachdem er mit seinen Dopingenthüllungen in „Anpfiff“ zu einem Geächteten des deutschen Fußballs wurde, erhielt er sogar zwei Angebote aus Frankreich. „Ich hatte sogar schon zwei Stunden Französisch-Unterricht genommen“, lächelt Schumacher, der heute in der Kölner Agentur Sportfirst arbeitet. Und auch Battiston, der heute die Jugend von Girondins Bordeaux trainiert, hat längst seinen Frieden gemacht mit dieser Szene. Schumacher habe ihn nicht so schwer verletzen wollen, sagte Battiston kürzlich. „Und aus heutiger Sicht muss ich sagen, dass ich ohne dieses Foul nie so bekannt geworden wäre.“

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