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Che von Meidling: Der ehemalige Bundesligaprofi Toni Polster ist der Hoffnungsträger beim Viertligisten SC Wiener Viktoria. Er selbst will über den Amateurklub zurück in den Spitzenfußball gelangen.

© David Herrmann-Meng

Fußball in Wien: Toni, Tradition und Trümmer

Toni Polster und Wien waren einst Größen im europäischen Fußball. Während der Wiener Fußball von seiner Vergangenheit zehrt, arbeitet sein letzter Star an der eigenen Zukunft als Trainer.

Das Sprungbrett liegt eingeengt zwischen Wohnblöcken, Fabrikhallen und Bahngleisen im Süden von Wien. Meidling. Arbeiterviertel. Um den Kunstrasenplatz drängen sich rund 700 Zuschauer. Ältere Herren sitzen auf Bierbänken neben der Trainerbank, auf Höhe des Mittelkreises steht ein Fernsehteam samt Kamera auf einem Holztisch. Im Spitzenspiel der viertklassigen Wiener Stadtliga empfängt der SC Wiener Viktoria den FC Stadlau. Zweiter gegen Ersten. Doch die Attraktion des Tages ist Viktorias Trainer: Anton Polster, genannt Toni, Österreichs letzter Fußball-Entertainer.

Es ist nicht mehr die große Fußballbühne. Aber das Prinzip ist immer noch das gleiche: Die Zuschauer wollen unterhalten werden. Und Polster ist in Form. Braungebrannt und mit Sonnenbrille schreitet er über den Platz. Die früh ergrauten Locken sind mittlerweile weiß, kurz geschnitten und mit Gel gebändigt. „Toni!“, rufen einige Zuschauer anerkennend. Polster grinst ihnen zu und hebt den Daumen.

Vor einem Jahr hat er bei der Wiener Viktoria angefangen. „Aus Ermangelung an Angeboten“, sagt er. Der Verein soll sein Sprungbrett sein. Er will zurück nach oben, in den Profifußball, als Trainer.

Der erhobene Daumen ist eines seiner Markenzeichen; er muntert seine Spieler auf, wenn ihnen etwas misslingt, und das passiert anfangs mehrmals: Viktorias Torwart jagt einen Abschlag ins Seitenaus. „Macht nix, Bua!“, ruft Polster. Ein Freistoß geht am Tor vorbei: „Der war Weltklass’!“ Manche Zuschauer haben sich etwas anderes erwartet: „I find’s schon enttäuschend, dass der Toni net mehr schreit“, sagt einer zu seinem Nebenmann. Es sind erst zehn Minuten gespielt.

Im Vereinsheim der Viktoria hängen mehrere Zeitungsartikel. Einige handeln vom Verein, dessen Vorbild der FC St. Pauli ist, und der sich selbst „Kultklub mit Engagement“ nennt – in der Winterpause dürfen Obdachlose im Vereinsheim übernachten, für Eltern von Jugendspielern mit Migrationshintergrund gibt es Deutschkurse. Alle Texte handeln aber vom Trainer – in der vergangenen Saison schaffte Polster sofort den Aufstieg von der fünftklassigen Oberliga in die Wiener Stadtliga und gewann den Wiener Landespokal. Die Viktoria qualifizierte sich dadurch für die erste Runde des österreichischen Pokals, wo sie diese Saison überraschend den Zweitligisten Kapfenberg rausschmiss und anschließend knapp am Bundesliga-Klub SV Ried scheiterte.

Einer der Zuschauer trägt ein rotes T-Shirt mit grinsendem Toni-Polster-Kopf im Che-Guevara-Stil. „Hasta la Wiener Viktoria siempre!“, steht darauf. So wie Che einst eine Ikone der Unterdrückten in aller Welt war, ist Toni Polster ein Hoffnungsträger im Unterhaus des Wiener Fußballs. „Sicherlich kommen etliche Zuseher wegen mir“, sagt er, „aber das würde nicht passieren, wenn wir nicht so erfolgreich wären.“ Für ihn ist der Erfolg das Ergebnis täglicher Arbeit, wie schon zu seiner aktiven Zeit als wuchtiger Stürmer. „Viele glauben, die Viktoria spielt einen guten Fußball, weil ich einmal die Woche den Spielern die Hand auf die Schulter lege und sie dann alle vierzig Prozent besser sind.“ Viermal die Woche steht er auf dem Trainingsplatz mit seiner Mannschaft.

Wo sich Fuchs und Platzwart Gute Nacht sagen

Toni Polster, der letzte Fußballstar Wiens und mit 44 Toren in 95 Länderspielen Rekordtorschütze der Nationalmannschaft, ist zurück bei seinen Wurzeln. Von Wien zog er einst aus, die Fußballwelt zu erobern. Mit Wiener Schmäh und Toren unterhielt er in Spanien, Italien und Deutschland seine Fans. Polster und Wien waren einmal mittendrin im internationalen Fußball. Die Zeiten sind vorbei.

Wien ist mittlerweile nur noch ein Nebenschauplatz. Nirgendwo zeigt sich dies so deutlich wie im Norden der Stadt. Döbling. Villenviertel. Dort liegt das Relikt des Wiener Fußballs: das Stadion Hohe Warte mit seiner steilen Naturtribüne, die in den Hang des namensgebenden Hügels gebaut ist. Als es 1921 eröffnet wurde, war es mit mehr als 80.000 Plätzen die größte Naturarena Europas und die grüne Bühne des Wiener Fußballs, der damals Europa prägte: Die erste Fußball-Mannschaft vom europäischen Festland, die bei einem britischen Klub siegte, kam aus Wien: Hakoah Wien gewann 1923 5:0 in London gegen West Ham United. Hier in Wien wurde der Grundstein für den Mitropacup, den Vorläufer des Europapokals, gelegt – viermal gewannen Wiener Mannschaften den Cup. Österreichs Nationalmannschaft, die damals nur aus Wiener Vereinsspielern bestand, blieb Anfang der Dreißiger Jahre zwölf Spiele hintereinander ungeschlagen. Nach einem 6:0-Auswärtssieg in Berlin wurde sie von der deutschen Presse „Wunderteam“ getauft. Noch vor der Weltmeisterschaft 1954 warnte der Kapitän der ungarischen Nationalmannschaft, Ferenc Puskas: „Die einzigen, die wir wirklich fürchten, sind die Österreicher“, und meinte damit die Wiener Fußballer. Von 22 Spielern im WM-Kader spielten 21 in der Hauptstadt.

Mittlerweile sind die Steinstufen der Hohen Warte von Löwenzahn und Gänseblümchen überwuchert. Im Sommer wachsen am Hang die Stauden mannshoch. In dem kleinen Wäldchen, das neben der Naturtribüne in die Kurve wuchert, wohnt ein Fuchs. Manchmal füttert ihn der Platzwart. Zwar spielt hier noch der Zweitligist und älteste Fußballklub Österreichs, der First Vienna FC 1894, doch statt der grünen Bühne ist die Hohe Warte mittlerweile das Freiluftmuseum des Wiener Fußballs.

In Meidling läuft es unglücklich an diesem Spieltag für Polsters Viktoria. Ein Eigentor. Nach 52 Minuten steht es 0:1. „Scheiße“, mault einer halblaut von der Bierbank. Toni Polster hat die Sonnenbrille abgesetzt. Er kneift seine Augen zusammen, seine Kaumuskeln treten hervor. Etwas verzögert ruft er: „Macht nix, weiter!“ Kurz darauf fliegt sein Kapitän nach einer Notbremse vom Platz. Die jüngeren Fans beschimpfen den Schiedsrichter und seine Mutter. Toni Polster hält sich zurück, verschränkt die Arme. Auch als der Ausgleich fällt – wieder ein Eigentor. Doch als seine Viktoria Angriff um Angriff startet, kann er sich nicht mehr zurückhalten. Polster steht nun auf der Seitenauslinie. Ein strittiges Foul an der Strafraumgrenze. Die Zuschauer fordern Elfmeter, der Schiedsrichter gibt Freistoß. „Schiri, das war das zweite Mal schon!“, brüllt Polster. „Naa!“, ruft der Schiedsrichter. Polster schaut gequält, dreht sich um, winkt ab. Das will die Bierbank sehen: „Jawoll, Toni, gib alles!“, brummt einer und klatscht in die Hände.

Schlusspfiff. Toni Polster umarmt seinen Co-Trainer und seine Spieler. Er gratuliert dem Gästetrainer, applaudiert den Fans. Auf dem Spielfeld fangen ihn Journalisten und Autogrammjäger ab. Der Stadionsprecher will auch noch ein Fazit zum Spiel hören. Während Polster ins Mikrofon spricht, schart sich eine Gruppe Kinder um ihn. Sie schauen zu ihm auf und strecken ihre Hände nach ihm aus – einmal das Vereinsmaskottchen streicheln. Toni Polster lässt das alles gelassen über sich ergehen.

Als Rudi Völler staunte

Grün-weiße Wand: Als „Fans mit einem Verein“ – und nicht umgekehrt – sehen sich die Anhänger von Rapid Wien, hier im Europapokalspiel gegen Leverkusen im Oktober 2012.
Grün-weiße Wand: Als „Fans mit einem Verein“ – und nicht umgekehrt – sehen sich die Anhänger von Rapid Wien, hier im Europapokalspiel gegen Leverkusen im Oktober 2012.

© Jan Mohnhaupt

Es ist ein Drahtseilakt, zwischen Trainer und Entertainer. „Ich ertappe mich immer wieder dabei, dass der Abstand zu den Leuten ein wenig zu gering wird“, sagt Polster. „Aber das liegt an meinem Wesen. Ich habe die Leute gern, und solang ich noch Luft bekomme, ist das in Ordnung.“ Denn das Prinzip ist immer noch das gleiche – die Zuschauer wollen unterhalten werden.

Nur manchmal betritt Wien noch die internationale Fußballbühne. Zu gewinnen gibt es nichts. Zumindest nicht auf dem Platz: Im Wiener Ernst-Happel-Stadion sieht Rudi Völler, Sportdirektor von Bayer Leverkusen, ein einseitiges Europa-League-Spiel, das längst entschieden ist: Nach 60 Minuten führt Leverkusen 3:0 bei Rapid Wien. Doch die 10.000 in der Rapid-Kurve stachelt das Debakel auf dem Feld an. Seit dem dritten Gegentor singen sie ununterbrochen, Arm in Arm, sie werden immer lauter. Als die Stadionuhr 74 Minuten und 50 Sekunden anzeigt, geht ein Raunen durch das Stadion. 51, 52, 53. 43.000 Zuschauer stehen auf und heben die Arme. 58, 59 – die 75. Minute beginnt. Auf einen Schlag klatschen sie, erst langsam, dann schneller. Im Takt. Die Menschenmasse sieht aus wie eine Wasseroberfläche, die anfängt zu brodeln, und dann beinahe überschwappt.

Seit 1919 klatschen sie, wenn die Rapid-Viertelstunde beginnt. So hat der Klub schon oft in der Schlussphase ein Spiel noch gedreht. Aber diesmal hat es etwas Absurdes. Die Hilflosigkeit auf dem Rasen und die Leidenschaft auf den Rängen passen nicht zusammen. Am Ende heißt es 0:4. Rudi Völler staunt. „Ich bin viel herum gekommen in den letzten 20, 30 Jahren“, sagt er nach dem Spiel, „aber diese Fans sind überragend.“

Toni Polster vergeht bei diesen Auftritten der Humor: „Heute ist der gesamte österreichische Fußball chancenlos“, sagt er. „Wir haben in der Champions League nichts verloren, selbst die Europa League ist für uns eine Klasse zu hoch.“ Im Dezember 2012 schied Rapid als letzter österreichischer Verein aus – mit einem 1:0 gegen Metalist Charkiw. Es war der erste Europapokal-Heimsieg seit mehr als drei Jahren im Ernst-Happel-Stadion. Rapids Erzrivale – und Polsters Heimatverein – Austria Wien spielte in dieser Saison erstmals seit elf Jahren gar nicht im Europapokal.

Im Amateurfußball gibt es ohnehin genug zu tun, erzählt Polster: „Viele Vereine werden noch wie ein Wirtshausverein geführt.“ Er weiß, was er an der Viktoria hat – und umgekehrt. Gemeinsam wollen sie in die Regionalliga aufsteigen. Zur Winterpause stehen sie, als Aufsteiger, auf dem zweiten Tabellenplatz. Im Moment gibt es für Polster nur den Fußball-Alltag in der vierten Liga. „Das ist das, was da ist“, sagt er. „Ich kann nicht von einem Lamborghini sprechen, wenn ich mir nur einen Polo leisten kann.“ Noch. Sein Ziel ist die Bundesliga – egal, ob in Österreich oder in Deutschland, wo er fast zwölf Jahre gelebt hat. „Es ist nicht so, dass ich schlaflose Nächte habe, weil ich noch nicht Trainer in der Bundesliga bin. Aber irgendwann wird es passieren, da hab ich keine Sorge.“ Auch in Wien-Meidling ist allen klar, dass es eine Liaison auf Zeit ist. Bis Toni die Chance kriegt. Und den Absprung wagt.

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