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Fußball und Demokratie: www.wahl11.de: Die Elf des Volkes

Auf der Internetseite www.wahl11.de beweisen deutsche Fans, dass sie durchaus demokratiefähig sind. Per Mausklick können sie ihre Nationalmannschaft aufstellen.

Eigentlich ist Cristiano Ronaldo an allem schuld. Denn die Idee zu „wahl11“ kam der Künstlerin Marion Pfaus an einem Champions-League-Abend, als sich der Portugiese wieder einmal über den Platz bewegte, als würde er in Arroganz schwimmen. Seine Übersteiger verhöhnten den Gegner, bei jedem Freistoß stand er breitbeinig vor dem Ball wie vor einem Duell um zwölf Uhr mittags. Marion Pfaus geht es wie vielen Fußballfans außerhalb Madrids. Cristiano Ronaldo wird eben entweder vergöttert oder verachtet.

So entbrannte auch im Wohnzimmer von Marion Pfaus schnell eine jener Grundsatzdebatten des Fußballs, die sich im besten Fall zu einem Streitgespräch entwickeln, aber meistens irgendwann im Stammtischniveau versumpfen. „Ich habe damals nur gesagt, wenn ich die Wahl hätte, würde ich ihn nicht aufstellen“, erinnert sich die Künstlerin. Doch die Meinung, der Portugiese sollte doch lieber auf der Bank sitzen, hatte sie schon damals relativ exklusiv. „Und dann habe ich mir überlegt, wie das wäre, wenn man wirklich die Wahl hätte.“

Es ist der uralte Traum der Hobby-Bundestrainer, die an jedem Spieltag, vor jedem Länderspiel zu Tausenden zu Hause vor dem Fernsehgerät, in der Eckkneipe oder in der Fankurve schimpfen und sowieso alles besser wissen als der aktuelle Teamchef: einmal mitbestimmen, einmal die Aufstellung beeinflussen. Marion Pfaus hat diese fast kindliche Idee ein wenig weitergedacht. Und auch wenn sie heute noch nicht mit der Taktiktafel neben Hansi Flick sitzt, so hat sie diesem Gedanken zumindest ein Gesicht gegeben. Und den Hobby-Bundestrainern damit eine Spielwiese. Ein virtuelles Bälleland der simulierten Mitbestimmung. Einen Fußballstammtisch 2.0.

Seit sechs Wochen ist www.wahl11.de online. Auf der Plattform, die für die fußballbegeisterte Künstlerin gleichzeitig bewegliches Kunstwerk, Web-Satire und vor allem „Spaßprojekt“ in einem ist, kann man die Nationalmannschaft auf demokratischer Grundlage wählen.

Noch ist die Seite etwas unübersichtlich, etwas zu bunt, etwas zu wirr. Dafür ist die Bedienung denkbar einfach. Um teilzunehmen, muss sich der User weder registrieren noch einloggen, wahlberechtigt ist jeder, Nationalität und Alter sind egal. Selbst Menschen ohne Fußballhintergrund dürfen sich hier ihre Lieblingsmannschaft nach unterschiedlichen Kriterien zusammenstellen. Nach Sternzeichen etwa. Und auch die Wahl selbst erfordert kein IT-Studium: Zuerst entscheidet man sich für ein Spielsystem, derzeit spielt die Demokratie-Elf im 4-4-2, und stellt die Spieler anschließend per simplem Drag&Drop-Verfahren auf ihre jeweilige Position. Derzeit kann man aus mehr als 200 Spielern wählen. Dabei sind der Fanstasie keine Grenzen gesetzt: ob mit den Bender-Zwillingen auf der Doppelsechs, Christian Vander im Tor oder einer reinen U 21. Alles kann, nichts muss. Seit Neuestem steht sogar Stürmer Michael Thurk vom Zweitligisten FC Augsburg zur Auswahl. „Den mussten wir in die Liste aufnehmen, weil die User das so wollten“, sagt Pfaus. Zumindest in diesem Fall ist wahl11 dem Bundestrainer schon einen Schritt voraus.

Ansonsten aber unterscheidet sich die Mannschaft, die die User gegen Argentinien auflaufen lassen wollten, nur unwesentlich von den Vorstellungen des Bundestrainers. Was Marion Pfaus auch nicht wirklich überrascht oder verunsichert. Ihr Ziel war es ohnehin nicht, die Autorität des Bundestrainers zu unterlaufen, der wie sie in Baden aufgewachsen ist. „Ich mag Joachim Löw“, sagt sie. „Die Seite sollte keine Kritik an ihm sein.“

Viel wichtiger als das Ergebnis war es Marion Pfaus, eine Antwort auf die Frage zu finden, ob man sich einem Konstrukt wie dem Fußball, der im Grunde auch heute noch archaischen Regeln und klaren Hierarchien folgt, überhaupt unter demokratischen Ansätzen nähern kann. Pfaus wollte sehen, ob diese Faktoren überhaupt zusammenpassen, Fußball und Demokratie. Denn als Künstlerin hat die Wahlberlinerin eine besondere Vorliebe für das Spiel mit der direkten Volksherrschaft entwickelt. Schon vor vier Jahren arbeitete sie an dem Projekt „Der Recyclingfilm“, bei dem ein neuer Film durch demokratische Abstimmung aus anderen Filmresten hergestellt wurde. Nun hat sie dieses Konzept auf den Fußball übertragen.

Und auch hier hat sie sich besonders für das Wahlverhalten der Teilnehmer interessiert. Denn egal ob die einen Fußballer mit der Maus auf Linksaußen ziehen oder mit einem Handzeichen den weiteren Verlauf einer Geschichte bestimmen dürfen: Das System bleibt dasselbe.

Ganz am Anfang war wahl11 dann auch eher eine Art Experiment. Denn: „Die Objektivität der Fans darf angezweifelt werden“, sagt Pfaus und ist sich sicher: „Es stellt sich natürlich die Frage, ob der Fußballfan in der Lage ist, die Vereinsbrille abzulegen, um für die übergeordnete Sache abzustimmen.“

10 000 Besucher hatte die Seite bisher. Und die anfängliche Skepsis gegenüber der Demokratiefähigkeit der Fans ist mittlerweile verflogen. Diese Masse an Bundestrainern hätte die Seite durchaus in einen Strudel aus Interessenvielfalt und Meinungswirrwarr reißen können. Doch Pfaus hat mittlerweile erkannt: „Am Ende fügt sich alles dem Konsens.“ Bestes Beispiel für den finalen Gleichschritt der Wähler ist dabei Philipp Lahm, der Vorzeigeschwiegersohn Fußballdeutschlands ist der deutsche Konsensspieler. „Alle wählen Lahm“, sagt Pfaus. Dabei ist es egal, ob die User aus Berlin, München oder Bremen kommen. Wenn Marion Pfaus über Lahm spricht, wirkt sie sichtlich zufrieden. Weil Lahm ein Indiz dafür ist, dass Fans durchaus über den eigenen Trikotkragen hinausschauen können.

Das Experiment wahl11 bringt darüber hinaus aber auch noch eine andere, nicht ganz unerhebliche Erkenntnis mit sich: Demokratie und Objektivität hängen nicht zwingend zusammen. Sie sind eher wie Schwestern unterschiedlicher Mütter. Wobei sie sehr gut ohne die jeweils andere existieren können. Denn das endgültige Wahlergebnis auf wahl11 kann durchaus demokratisch sein, ohne aber den Grundregeln der Objektivität zu entsprechen. Wenn etwa plötzlich tausende HSV-Fans auf der Website einfallen und Piotr Trochowski auf die Position im linken Mittelfeld wählen, wird der kleine Dribbler dort am Ende einen Stammplatz haben, obwohl er derzeit nicht annähernd so stark spielt wie sein Konkurrent Toni Kroos. „Dieses Ergebnis wäre nicht objektiv, gleichzeitig aber hochgradig demokratisch“, meint Marion Pfaus. Am Ende gewinnt eben nicht immer der Kandidat mit dem größten Potenzial, sondern derjenige, der – warum auch immer – die meisten Stimmen erhält. So sind ganz andere schon Vizekanzler geworden.

Und es ist gerade dieser Westerwelle-Effekt, der zeigt: Fußball und Demokratie passen durchaus zusammen. Ob diese Verbindung jedoch sinnvoll ist, darüber lässt sich ebenso gut streiten wie über Cristiano Ronaldo.

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