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So kann es weitergehen. Steph Houghton (links) und Claire Rafferty (Mitte) feiern den Viertelfinalsieg gegen Kanada.

© AFP

Fußball-WM der Frauen in Kanada: England: Heldinnen mit Plan

Halbfinalist England ist das Überraschungsteam der Fußball-WM 2015 in Kanada. Für den Erfolg der Britinnen gibt es viele Gründe.

Von Johannes Nedo

Mittlerweile haben sie ein breites Repertoire an Antworten zu bieten: pathetische, witzige und fachliche. Schließlich müssen sie immer wieder erklären, warum sie bei dieser Fußball-WM der Frauen in Kanada so erfolgreich sind. Englands Kapitänin Stephanie Houghton sagt: „Weil es unser Ziel war, eine ganze Nation zu inspirieren.“ Nationaltrainer Mark Sampson gibt sich schlagfertig: „Weil wir gute Touristen sind.“ Und Mittelfeldstar Fara Williams antwortet darauf: „Weil wir jederzeit unseren Matchplan ändern können, wenn wir adaptieren müssen.“

Doch die englischen Fußballerinnen müssen nicht nur ständig kreative Erklärungen liefern, sondern sich auch große Vergleiche gefallen lassen. So werden Houghton, Williams und Sampson in der Heimat mittlerweile mit Paul Gascoigne, Gary Lineker und Sir Bobby Robson verglichen, also jener englischen Nationalmannschaft, die als letzte in ein WM-Halbfinale eingezogen ist. 1990 war das, bei der WM in Italien. Nun, 25 Jahre später, sind die Frauen die erste englische Mannschaft, der das wieder gelungen ist. Und gegen Titelverteidiger Japan (in der Nacht auf Donnerstag, 1 Uhr MEZ/live im ZDF und auf Eurosport) wollen sie in Edmonton schaffen, was Gascoigne und Co. damals gegen Deutschland verwehrt blieb: den Einzug ins Endspiel.

Dass Sampson und sein Team überhaupt so weit gekommen sind, damit hätten sie selbst nicht gerechnet. Sie sind die Überraschungsmannschaft dieser Weltmeisterschaft, die auf ihrem Weg ins Halbfinale große Hürden gemeistert hat. In ihrer Vorrundengruppe wurden sie mit zwei Siegen Zweiter hinter den Französinnen, gegen die sie nur 0:1 verloren hatten. Im Achtelfinale gewannen sie trotz eines Rückstands gegen Norwegen. Und im Viertelfinale bezwangen sie den WM-Gastgeber mit 2:1. Dabei hatten die Engländerinnen nicht nur die 54 000 kanadischen Zuschauer in Vancouver gegen sich, sondern auch die Natur. In der zweiten Halbzeit konnte Torhüterin Karen Bardsley plötzlich nichts mehr sehen. Die Haut um ihr rechtes Auge schwoll so dick an wie ein Golfball – offenbar wegen einer allergischen Reaktion. Doch Bardsley versuchte erst gar nicht, die Heldin zu markieren, und ließ sich sofort auswechseln.

Solch selbstlose Taten stehen stellvertretend für die gesamte Mannschaft. Der Waliser Sampson hat aus vielen aufopferungsvollen Spielerinnen ein bemerkenswertes Team geformt. Spielerinnen wie Katie Chapman (33), die neben ihrer Fußballkarriere Mutter von drei Kindern ist. Wie Fara Williams, die als 17-Jährige zu Hause rausgeworfen wurde, einige Jahre keinen festen Wohnsitz hatte und mittlerweile als Englands Rekordnationalspielerin (bisher 145 Einsätze) das Spiel ihrer Mannschaft dirigiert. Oder wie Francesca Kirby. Die 22-Jährige litt vor vier Jahren unter starken Depressionen, weil sie den plötzlichen Tod ihrer Mutter einige Jahre zuvor nicht verkraften konnte. Kirby hörte deshalb sogar ganz mit dem Fußballspielen auf. Nun spielt die Stürmerin so stark wie noch nie, beim 2:1-Vorrundensieg gegen Mexiko erzielte sie ein Tor und Sampson nennt sie „unseren Mini-Messi“.

Doch dem erst 32-jährigen Nationaltrainer ist es nicht nur gelungen, Spielerinnen wieder aufzubauen, besonders zu motivieren und einen starken Teamgeist zu erzeugen, er stellt seine Mannschaft auch perfekt auf die Gegner ein – und verwirrt diese mit der eigenen Taktik. So rotierte er ständig beim Personal und beim Spielsystem und seine bestens organisierte Mannschaft setzt das problemlos um. Außerdem legt Sampson großen Wert auf einstudierte Standardsituationen. „Wir haben alle Standards der Gegner in den vergangenen sechs Monaten studiert“, sagt Sampson. Das mussten auch die zuletzt unterlegenen Trainer Norwegens und Kanadas anerkennen. Beide lobten Sampson für seine clevere Taktik – es gibt also wirklich sehr viele Erklärungen, warum die Engländerinnen bei der WM so überraschen.

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