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In letzter Sekunde. Wolfgang Weber (links) erzielt das 2:2 uns schickt das Spiel in die Verlängerung.

© dpa

Aufgeschrieben: Wolfgang Webers WM-Moment 1966: Plötzlich war es totenstill

Wolfgang Webers WM-Moment: Die Engländer feiern schon den Titelgewinn, da lenkt der junge Verteidiger den Ball in letzter Sekunde zum 2:2 für die Deutschen ins Tor. Zum ersten Mal geht ein WM-Finale in die Verlängerung.

Wenn man mich fragt, was für mich der wichtigste WM-Moment war, dann kann es darauf nur eine Antwort geben: natürlich mein Tor im Finale 1966, der Ausgleich zum 2:2 gegen England mit der letzten Aktion in der regulären Spielzeit. Wir waren zurück im Spiel, und wir hatten plötzlich wieder die Chance, in der Verlängerung doch noch Weltmeister zu werden. Bis dann das – wie soll man sagen? – Nicht-Tor der Engländer unsere Hoffnungen zunichtemachte.

Das 2:2 habe ich noch heute in meiner Erinnerung gespeichert. Für die Engländer war das ein Schock. Eigentlich waren sie sich schon sicher, dass sie das Finale gewonnen hatten, sie führten 2:1, und auf der englischen Bank saß niemand mehr. Auch auf unserer Bank gab es große Aufregung. Helmut Schön, der Bundestrainer, und seine beiden Assistenten Udo Lattek und Dettmar Cramer – sie ruderten mit den Armen und trieben uns noch einmal nach vorne.

Wir Deutschen hatten vor dem Turnier nicht unbedingt zu den Favoriten gezählt, aber wir hatten damals eine relativ klare Struktur: mit den erfahrenen Recken Hans Tilkowski, Uwe Seeler und Willy Schulz, Spielern im besten Fußballeralter wie Siggi Held, Helmut Haller, Karl-Heinz Schnellinger und Lothar Emmerich und dazu den jungen Wilden Franz Beckenbauer, Horst-Dieter Höttges, Wolfgang Overath und mir.

Im Finale hieß mein Gegenspieler Roger Hunt. Er galt eigentlich als gefährlichster englischer Stürmer. Aber ich kannte ihn bereits gut aus unseren Europacup-Spielen mit dem 1. FC Köln gegen den FC Liverpool: In all den Begegnungen hatte er kein einziges Tor gegen uns erzielt, und im WM-Finale hat er auch nicht getroffen. Dafür erzielte sein Sturmpartner Geoff Hurst drei Tore, und das vierte für die Engländer steuerte Martin Peters bei. Eine knappe Viertelstunde blieb uns nach dessen Treffer zum 2:1 noch. Wir waren am Drücker, aber das Spiel hatte auch viel Kraft gekostet. Der Rasen in Wembley war sehr weich, man sackte beim Laufen fast ein bisschen ein.

In der letzten Minute hielt mich nichts mehr hinten. Es gab noch einmal Freistoß für uns, weil sich ein Engländer – ich glaube, es war Jack Charlton – bei Siggi Held aufgestützt hatte. Die Engländer protestierten. Vergebens. Lothar Emmerich trat den Ball flach in den Strafraum, er wurde zunächst abgeblockt, Siggi Held setzte nach und flankte in die Mitte. Der Ball trudelte durch den Strafraum, er prallte Karl- Heinz Schnellinger gegen den Rücken, flog an Uwe Seeler vorbei – und dann lag er genau vor meinem rechten Fuß. Ich sah viele Beine vor mir, aber auch die Lücke, durch die der Ball hindurch musste. Es ist schon komisch – ich weiß noch, dass ich in diesem Moment gedacht habe: Schieß, so schnell wie möglich! Gib dem Schiedsrichter bloß keine Chance, das Spiel abzupfeifen, bevor der Ball im Tor ist!

Und plötzlich wurde es totenstill in Wembley. Nur die deutschen Fans im Stadion jubelten. 2:2. Zum ersten Mal in der WM-Geschichte ging ein Finale in die Verlängerung.

Ich war damals 22, und es war mein erstes Länderspieltor überhaupt. Aber erst vor einigen Jahren habe ich begriffen, was es eigentlich bedeutet, in einem WM-Finale getroffen zu haben. Nur neun deutsche Spieler haben das geschafft, und ich bin einer davon. In der Rückschau würde ich sogar sagen: Dieses Tor und das, was es ausgelöst hat, das war mein sportlich glücklichster Moment überhaupt. Natürlich hätte ich gerne darauf verzichtet, wenn wir stattdessen Weltmeister geworden wären. Aber wir sind auch als Vizeweltmeister ausgiebig gefeiert worden. Am Tag nach dem Finale gab es einen Empfang auf dem Römer in Frankfurt, da war die Hölle los.

Beeindruckend war aber auch, wie die Engländer reagiert haben. Nach dem Spiel fuhren wir vom Wembleystadion zum offiziellen Bankett ins Hotel der Fifa. An jeder Kreuzung standen Hunderte von Menschen und haben uns applaudiert. Das war eine faire Geste, aber auch eine Anerkennung für unser Auftreten. Ich höre immer wieder, dass wir damals sehr viel Positives für das Image Deutschlands getan haben – gerade weil wir die unglückliche Niederlage so klaglos akzeptiert haben.

Aufgezeichnet von Stefan Hermanns. Nächste Folge: Jürgen Sparwasser über das Sparwasser-Tor.

* WM 1966, Wolfgang Weber

Wolfgang Weber

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