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Deutsches WM-Aufgebot: Ein Stürmer namens Hoffnung

Wenig Überraschendes, viele Fragezeichen: Was ist von Deutschlands WM-Aufgebot in Südafrika zu erwarten?

Der Anfang ist gemacht: Bundestrainer Joachim Löw hat gestern 27 Spieler in seinen Kader für die Weltmeisterschaft in Südafrika berufen. Anfang Juni wird er sein Aufgebot auf 23 definitive WM-Teilnehmer reduzieren müssen, danach bleiben noch knapp zwei Wochen, um die Startelf für das erste Spiel am 13. Juni gegen Australien herauszufiltern. Wir bewerten Chancen und Risiken, die in Löws Auswahl stecken.

TOR

Keine Position hat das deutsche Fußballvolk in der jüngeren Vergangenheit so sehr bewegt wie die des Torhüters in der Nationalmannschaft. Die vorübergehende Ruhe – das hat diese Woche gezeigt – war nur eine trügerische. Durch die Verletzung von René Adler ist alles wieder im Fluss, auch weil Bundestrainer Joachim Löw sich gestern noch nicht zur entscheidenden Frage äußern wollte: Wen hat er für Südafrika als Nummer eins vorgesehen? Fällt die Entscheidung allein zwischen den beiden bisherigen Anwärtern Manuel Neuer und Tim Wiese, oder ist auch der Nachrücker Jörg Butt ein ernsthafter Kandidat? Als „sehr konstant, sehr klar, sehr seriös“ hat Löw dessen Spiel als Torwart charakterisiert. Hinzu kommt eine nicht zu unterschätzende Komponente: Butt dürfte Ende Mai mit einer Menge Selbstvertrauen zur Nationalmannschaft nachreisen: als Deutscher Meister auf jeden Fall, vielleicht als Pokalsieger und ebenso vielleicht sogar als Gewinner der Champions League. Trotzdem: Da Löws Kader eine Menge Zukunft in sich trägt, wäre es eine Überraschung, wenn er die Position im Tor jemandem anvertraute, der noch vor einem Jahr als Mann der Vergangenheit galt – zumal Jörg Butt seinen beiden Konkurrenten in Sachen Länderspielerfahrung nur unwesentlich voraus ist. Während Neuer und Wiese auf je zwei Einsätze kommen, bringt es der 35 Jahre alte Butt auf drei – gegen Liechtenstein, die USA und Kanada.

ABWEHR

Ein Blick in die Chronik der Fußball-Weltmeisterschaften lehrt, dass ein großes Turnier häufig wie ein Katalysator wirkt. Es kann Karrieren beschleunigen, die vorher undenkbar erschienen. 1974 zum Beispiel war Rainer Bonhof mit 22 Jahren nicht nur der jüngste Spieler im deutschen WM-Aufgebot, er rückte auch als Nummer 22 in den Kader. Na gut, dachte sich der Mittelfeldspieler von Borussia Mönchengladbach, nutze ich das Turnier eben als Vorbereitung auf die neue Saison. Nach der eher bescheidenen Vorrunde der Deutschen aber fand sich Bonhof plötzlich in der Mannschaft wieder und bestritt fortan alle Spiele, das Finale inklusive. Eine ähnliche Karriere ist in diesem Sommer am ehesten Holger Badstuber zuzutrauen. Der Münchner, bisher ohne jedes Länderspiel, gilt unter den nominierten Innenverteidigern als der Mann mit den geringsten Einsatzchancen. Wenn man sich da mal nicht täuscht! „Einfach, sachlich, ruhig“ hat der Bundestrainer den Münchner in seiner ersten Bundesligasaison erlebt, „er macht sehr, sehr wenige Fehler“. Das unterscheidet ihn von Jerome Boateng und Serdar Tasci, seinen beiden jungen Mitbewerbern um den zweiten Platz in der deutschen Innenverteidigung neben Per Mertesacker. An Boateng und Tasci hat Löw einen Narren gefressen, weil sie die ersten Vertreter einer Generation sind, die komplett mit der deutschen Vorstoppertradition gebrochen hat: Trotz ihrer Position denken sie in erster Linie offensiv, das schätzt der Bundestrainer. Die ihnen zuerkannten Stärken in der Spieleröffnung, dem Aufbau- und Angriffsspiel sind jedoch in erster Linie eine schmeichelhafte Umschreibung für ihre zum Teil existenziellen Schwächen in der eigentlichen Schlüsselkompetenz eines Verteidigers: im Verteidigen. Tasci und Boateng streuen in ihr Spiel mit erstaunlicher Zuverlässigkeit unglaubliche Fehler mit verhängnisvollen Folgen ein.

Die Abwehr scheint ohnehin der Mannschaftsteil mit den meisten Problemen und den größten Ungewissheiten zu sein. Eine eingespielte Formation besitzt der Bundestrainer noch nicht, was auch daran liegt, dass die Besetzung der beiden Außenpositionen längst nicht abschließend geklärt ist. Rückt Philipp Lahm wieder nach links, obwohl er bei den Bayern die komplette Saison rechts verteidigt hat? Gibt Arne Friedrich, der bei Hertha das ganze Jahr über in der Zentrale gespielt hat, sein Comeback auf Rechts? Gut möglich, dass Löw gar nicht anders kann: Dennis Aogo und Andreas Beck jedenfalls, neben Lahm die einzigen echten Außenverteidiger im deutschen Aufgebot, haben sich in ihren Vereinen nicht gerade für eine WM-Teilnahme qualifiziert. Und für einen Stammplatz in der deutschen Elf schon mal gar nicht.

MITTELFELD

Im Mittelfeld versammelt Löws Kader die größte individuelle Qualität – und das liegt anders als bei den Turnieren 2002 und 2006 nicht mehr ausschließlich an Michael Ballack. Ohne eigenes Zutun ist dem Bundestrainer ein idealer Kandidat für die zweite Position in der Zentrale zugewachsen: Bastian Schweinsteiger, der als Außenspieler an die Grenzen seiner Entwicklung gestoßen war, hat als halber Sechser vor der Abwehr in dieser Saison einen erstaunlichen Qualitätssprung gemacht. Es ist bemerkenswert, mit welcher Selbstverständlichkeit, Ruhe und Übersicht der Münchner im Verein seine neue Rolle interpretiert hat. „Auf der Tribüne spürt man förmlich, wie viel Verantwortung er übernimmt“, hat Löw über den einstigen Posterboy des deutschen Fußballs gesagt, der inzwischen eine beachtliche Ernsthaftigkeit besitzt. Der Bundestrainer hat sich einer Versetzung Schweinsteigers ins defensive Mittelfeld lange widersetzt, weil er glaubte, ihn noch in der alten Rolle zu brauchen. Doch für den Part wuseliger Offensivmann gibt es längst neue und wohl auch besser geeignete Kandidaten: Mesut Özil, Marko Marin, Toni Kroos und wohl auch Thomas Müller, obwohl der offiziell als Stürmer geführt wird. Piotr Trochowski droht angesichts dieser hoch begabten Konkurrenz bei der WM das gleiche Schicksal wie beim Hamburger SV – ein Platz auf der Ersatzbank, wenn überhaupt. Vermutlich läuft es auf einen vereinsinternen Verdrängungswettbewerb zwischen Marcell Jansen und Piotr Trochowski hinaus. Gelingt es Jansen, den Bundestrainer bis zum 1. Juni davon zu überzeugen, dass seine Verletzung einem erfolgreichen Turnier nicht im Weg steht, könnte es für Trochowski eng werden – auch wenn Christian Träsch auf den ersten Blick natürlicher Streichkandidat ist. Der Stuttgarter ist aber vielseitig verwendbar, etwa als rechter Außenverteidiger.

STURM

Selten hat in einem deutschen WM-Kader so viel Zukunft gesteckt. Ausnahme ist der Sturm, in dem sich das Establishment noch einmal erfolgreich behauptet hat. Das liegt zum einen an Löw, der seinen alten Recken Miroslav Klose und Lukas Podolski früh signalisiert hat, dass sie sich für den WM-Sommer nichts anderes vornehmen sollten. Andererseits: Wo sind die neuen frischen Gesichter, die jungen Angreifer deutscher Nationalität? Kevin Kuranyi war zwar lange nicht dabei, wäre, streng genommen, aber auch nur ein alter Bekannter gewesen. Patrick Helmes, der mal jung und wild war, ist nach seinem Kreuzbandriss nicht mal annähernd an seine alte Stärke herangekommen. Bleibt für das Fach des jugendlichen Draufgängers allein Thomas Müller, der aber eher ein Grenzgänger zwischen Mittelfeld und Angriff ist. Löws wichtigster Stürmer taucht im offiziellen Aufgebot gar nicht explizit auf: Er trägt den Namen Hoffnung. In Löws Kader steckt sogar ziemlich viel Hoffnung: die Hoffnung, dass Lukas Podolski bei der WM mal wieder eine manische Phase erwischt, dass Mario Gomez nicht wie bei der EM 2008 seinen Turnierblues bekommt und Miroslav Klose in Südafrika vielleicht doch noch ein letzter Karrierehöhepunkt gelingt.

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