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Knick in der Linse. Aber solche Fehlentscheidungen wie bei Deutschland - Englang müssten nicht sein.

© AFP, Montage: Thomas Mika

Fehlentscheidungen: Warum sind technische Hilfsmittel so umstritten?

Der Schiedsrichter muss entscheiden, ob ein Ball im Tor ist oder nicht – ohne technische Hilfe. Dass es auch anders geht, zeigen Sportarten wie Eishockey, American Football und inzwischen auch Tennis.

Es gibt im Fußball Bilder, die darf es eigentlich gar nicht geben. Auf der Videowand von Soccer City in Johannesburg sah der Linienrichter im WM-Spiel zwischen Argentinien und Mexiko, dass der argentinische Torschütze Tevez im Abseits gestanden hatte. Das war ihm zuvor auf dem Rasen entgangen. Darüber hat er wohl auch Schiedsrichter Rosetti informiert. Aber die Regeln im Fußball sehen nun einmal keinen Videobeweis vor. Rosetti entschied auf Tor. Regelgerecht und falsch zugleich. Das war nach dem nicht gegebenen Treffer für England im Spiel gegen Deutschland der zweite gravierende Fehler an einem Tag. Und der absurdere. Weil er wider besseren Wissens geschah.

Warum sind technische Hilfsmittel so umstritten im Fußball?

Dass im Fußball menschliche Entscheidungsfähigkeit über technischen Möglichkeiten steht, hat viel mit der Kultur des Spiels zu tun. Fußball soll ein menschengemachtes Drama sein, Irrtümer gehören dazu. So wie der Stürmer den Ball auch mal übers leere Tor schießen kann, so kann eben auch der Schiedsrichter ein eindeutiges Tor übersehen. Aus solchen Fehlern sind große Legenden entstanden wie das Wembley-Tor im Finale der WM 1966 zwischen Gastgeber England und Deutschland, als der Schuss des Engländers Geoff Hurst im Wembley-Stadion von der Latte zurück auf die Linie sprang und als Tor gewertet wurde. Oder das Tor von Diego Maradona im WM-Viertelfinale 1986 gegen England, das er mit der Hand erzielte, die er hinterher zur „Hand Gottes“ heilig sprach.

Über die Regeln im Fußball wacht der International Football Association Board (IFAB). Er wurde 1882 gegründet. Vier seiner acht Mitglieder entsendet der Weltverband Fifa, die anderen kommen aus den Ländern mit den ersten Fußballverbänden: England, Schottland, Wales und Nordirland (früher aus Irland). Um eine Regel zu ändern, sind sechs der acht Stimmen nötig. Bei der vergangenen Sitzung im März schlug der schottische Verband vor, den Videobeweis zu nutzen, um nach einem Spiel Sanktionen wegen des Simulierens von Verletzungen verhängen zu können. Auch über einen Chip im Ball hatte der Board zu entscheiden, einen Chip, der dem Schiedsrichter über ein akustisches Signal mitteilt, ob der Ball im Tor war. Der Board entschied sich aber gegen die Einführung jeglicher technischer Hilfe. Er hat das Image eines verknöcherten Altherrenklubs, sieht aber viele Traditionalisten auf seiner Seite. „Der Fußball soll menschlich bleiben“, sagt Michel Platini, der Präsident des europäischen Verbandes Uefa, und Fifa-Generalsekretär Jerome Valcke erklärte ebenfalls: „Das Besondere sind die Menschen, und da gehören auch Fehler dazu.“ Technologie müsse daher aus dem Spiel herausgehalten werden.

Es herrscht die Angst, eine Büchse zu öffnen, aus der nicht nur Hilfe kommt, sondern auch Gift. Dass eine Veränderung die nächste nach sich zieht und am Ende das Spiel zerstückelt, weil es ständig Unterbrechungen gibt, um Spielsituationen zu überprüfen. Entscheidend können ja nicht nur Tore sein, sondern auch Rote Karten, Elfmeter, Abseitsstellungen.

Die Debatte um technische Hilfsmittel taucht jedoch mit zuverlässiger Regelmäßigkeit auf. Das hat mehrere Gründe: Die Fehler der Schiedsrichter sind durch immer bessere Fernsehbilder deutlicher sichtbar, die Technologie entwickelt sich eben immer weiter. Die ökonomische Bedeutung des Spiels wächst, was die Forderung nach mehr Berechenbarkeit stützt. Zudem hat sich der Fußball wie alle anderen Sportarten auch verändert, er ist schneller und athletischer geworden. Während andere Sportarten darauf reagiert haben, ist der Fußball seinem Regelwerk weitgehend treu geblieben.

Wie technisiert ist der Fußball schon?

Die Frage nach Tor oder nicht entscheidet das menschliche Auge, doch bei der taktischen Auswertung können es nicht genug elektronische Sehhilfen sein. Bei dieser Weltmeisterschaft wird jeder Schritt der Spieler beobachtet, sie sind gläsern. Dank einer „Tracking-Technologie“, die mit am Stadiondach montierten Sensoren arbeitet, wird jeder gelaufene Meter, jeder Pass, jeder Zweikampf und jede sonstige Aktion der sich bewegenden Figuren auf dem Spielfeld aufgezeichnet. Ein Sponsor wertet diese Daten aus und erstellt so eine Rangliste der für ihr Team wertvollsten Spieler. Diese Technologie wird seit Jahren im europäischen Fußball angewendet, die Trainer ziehen einen großen Nutzen daraus zu wissen, dass ihr Mittelfeldspieler wieder 800 Meter weniger gelaufen ist als die anderen oder dass die Lücke zwischen defensivem Mittelfeld und Viererkette noch größer war als gedacht. Vom zu langsamen Aufrücken des linken Verteidigers bei Kontern ganz zu schweigen. Für die Trainer der Spitzenklubs sind diese Mittel unverzichtbar geworden, viele Erkenntnisse gewinnen sie aus dieser lückenlosen Überwachung. Die Beobachtung ist ein Geschäftszweig, Marktführer Mastercoach zählt Champions-League-Sieger Inter Mailand und Atletico Madrid, den Gewinner der Europa League, ebenso zu seinen Kunden wie Bayern München. Auch die Fernsehsender warten zu jedem großen Turnier mit einer neuen technischen Spielerei auf, um ihren Zuschauern das Spiel in Taktikfilmchen oder der Aufbereitung entscheidender Szenen aus verschiedenen Perspektiven nahe zu bringen. Die Spieler erscheinen hierbei immer mehr wie animiert, und viele spielen ja in ihrer Freizeit selbst an der Playstation. Manche sagen, hier könne man sich sogar noch etwas abgucken.

Welche Möglichkeiten gäbe es und welche sind realistisch?

Einen Tag dauert es nach Angaben der Entwickler, die „Goal Line Technology“ in jedem beliebigen Stadion der Welt zu installieren. Der Chip im Ball ist ein 20 Gramm schwerer Sensor, der Magnetfelder misst. Im Rasen sind Kabel verlegt, die sehr schwache Magnetfelder erzeugen. Der Chip sendet Werte an zwei Empfangsantennen, ein Computer ermittelt in Sekundenbruchteilen, ob der Ball im Tor war oder nicht, der Schiedsrichter wird per Funk auf seiner Armbanduhr informiert. Dieses System wurde schon 2007 bei der Klub-WM getestet, es funktioniert. Die Bundesliga zeigte sich interessiert und bot sich für einen Testbetrieb an, das Projekt wurde nach der Ablehnung des IFAB aber nicht realisiert. Eine andere Möglichkeit, zu bestimmen, ob der Ball drin war oder nicht, ist die Torkamera. Hierbei werden vier Kameras in jedem Tor installiert, zwei rechts und links auf Höhe der Torlinie, zwei schräg mit Blick auf das Tor. Das menschliche Auge kann 25 Bilder pro Sekunde verarbeiten, die Kameras erzeugen 500 Bilder pro Sekunde. So muss man sich schon eine absurde Situation mit einem nie dagewesenen Spielerknäuel ausdenken, bei dem keine Entscheidung über ein Tor gefällt werden könnte.

Die Umsetzung dieser Technologien wäre machbar, ihre Anwendung ist realistischer als etwa die des noch nicht ausgereiften Chips im Schienbeinschoner, mit dem theoretisch eine Abseitsposition erkannt werden könnte. Hier wäre zudem zu regeln, wann diese Messungen von wem konsultiert werden. Ähnlich verhält es sich mit dem Videobeweis. Man denke nur daran, dass sich oft nach der fünften Superzeitlupe aus den verschiedenen Blickwinkeln nicht klären lässt, ob es nun Elfmeter war oder nicht. Für die nachträgliche Bestrafung von Tätlichkeiten, die dem Schiedsrichter entgangen sind, wird er allerdings schon genutzt.

Wie geht der Fußball mit den aktuellen Streitfällen um?

Die Reaktionen sind gespalten. Die Fifa hat nach den beiden Fehlentscheidungen vom Sonntag erklärt, sie werde es wie immer halten und keine Entscheidungen ihrer Schiedsrichter kommentieren. Die Absage an den Chip im Ball im März dieses Jahres konnte ohnehin als grundsätzliche Weigerung angesehen werden, über technische Hilfsmittel nachzudenken.

Der Verband sieht sich jedoch zunehmend Forderungen nach Veränderungen durch Trainer, Spieler, Vereine und Verbände ausgesetzt. Der kleinste gemeinsame Nenner ist dabei die Einführung eines Hilfsmittels, die zweifelsfrei über ein Tor entscheidet. Dabei geht es nur um die Wahl des Mittels. Schon vor den WM-Spielen am Sonntag hatte sich der renommierte Schweizer Schiedsrichter Massimo Busacca für eine Torkamera ausgesprochen. Eugen Striegel, Lehrwart des Deutschen Fußball-Bundes, sagt: „Wir würden den Chip im Ball bevorzugen. Mit diesem Hilfsmittel wären menschliche Fehler auszuschließen.“ Und Uli Hoeneß, Präsident von Bayern München sagt: „Die Torkamera ist die einzige elektronische Hilfe, die keine Diskriminierung des Schiedsrichters bedeutet.“ Der europäische Fußballverband Uefa will die Situation mit menschlichen Mitteln verbessern und in der Champions League und der Qualifikation zur Europameisterschaft Torrichter einsetzen.

Wie sieht es in anderen Sportarten aus?

Wenn der Fußball wollte, könnte er sich von anderen einiges abschauen. Vom Eishockey etwa die Torraumkamera. In der Deutschen Eishockey-Liga (DEL) nimmt sie der Schiedsrichter in der Regel einmal pro Spiel zu Hilfe, um zu erkennen, ob der Puck drin war oder nicht. Er kann auch herausfinden, ob das Tor mit dem Schlittschuh anstatt mit dem Schläger erzielt worden ist, dann zählt es nicht. Kommt die Saison in die entscheidende Phase, in die Play-offs, greife der Schiedsrichter häufiger auf die Videobilder zurück, im Schnitt drei Mal, sagt Jörg von Ameln, der bei der DEL für den Spielbetrieb zuständig ist. „Wenn die Halle kocht, kann der Schiedsrichter mit dem Videobeweis zur Beruhigung beitragen.“ Der Videobeweis habe sich so gut bewährt, dass sogar mehr davon gewünscht werde. Inzwischen können auch die Bilder des übertragenden Fernsehsenders herangezogen werden, nicht nur die der an der Hallendecke installierten Torraumkamera. „Die Spieler sind froh über die Torraumkamera, die Schiedsrichter auch“, sagt von Ameln. „Die Schiedsrichter würden die Szenen sonst sowieso in der Drittelpause sehen und sich ärgern.“

Ob die Videobilder benutzt werden, entscheidet allein der Schiedsrichter. Sonst könne der Videobeweis als taktisches Mittel benutzt werden. In anderen Sportarten haben auch die Mannschaften das Recht, eine strittige Szene überprüfen zu lassen. Im American Football steht das dem Headcoach zweimal pro Spiel zu. Wirft er eine rote Flagge auf das Feld, muss der Schiedsrichter die strittige Szene in einer mobilen Videokabine überprüfen. Bleibt der Schiedsrichter bei seiner Entscheidung, wird der Mannschaft eine Auszeit abgezogen. In der nordamerikanischen Profiliga kommt es im Schnitt zu einer Überprüfung pro Spiel.

Tennis hat ebenfalls investiert, um Fehlentscheidungen zu reduzieren. 50.000 Dollar kostet das so genannte Hawk-Eye, ein System von zehn Kameras, die ein dreidimensionales Bild entwerfen und bis auf drei Millimeter genau berechnen können, wo der Ball gelandet ist.

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