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Das deutsche Team startet am Sonntag in die WM.

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Kommentar: Der Ball des Anstoßes

Eine junge Mannschaft geht in Schwarz-Rot-Gold an den Start: Tagesspiegel-Sportchef Robert Ide über ein Team, das in einer Art Patchwork-Koalition mehrere Anführer auf dem Rasen erkoren hat und nicht nur einen. Ein Team, das in aller Welt verwurzelt ist und nicht nur in dem einen Heimatland. Auch so schafft Fußball Identität.

Der Fußball wird immer leichter. Die Kunststoffkugel, um die sich ab heute alles dreht, fliegt schneller, höher und weiter als je zuvor. Auch vor dieser Weltmeisterschaft ist der flatternde Ball wieder mit Berechnung noch ein bisschen unberechenbarer gemacht worden. Ob der Fußball als Spiel damit schöner wird? Für Torhüter sicher nicht; für die Fans schon eher – man wird es sehen, von heute an jeden Tag.

Die Stärke jenes Sports, der weltweit die meisten Menschen fasziniert und der sich auf seiner wandernden Weltausstellung nun in Südafrika präsentiert, erwächst aus kalkulierter Überraschung: leicht verständlich, schwer vorherzusagen. Da loggt man sich gerne noch schnell in eine Tipprunde unter Freunden und Kollegen ein.

Die Einfachheit, mit der Fußball in der ganzen Welt Leidenschaft weckt, hat das Spiel zu einem universellen Produkt gemacht, und damit nebenbei den Weltverband Fifa zum Global Player. Doch die bis an die Grenzen der Erträglichkeit gesteigerte Vermarktung schadet der Leichtigkeit des Spiels erstaunlicherweise nicht. Dem Mitfiebern und Mitjubeln kann sich kaum jemand entziehen, selbst wenn nicht jeder richtig in eine Vuvuzela blasen kann. An den Autos in Berlin flattern schon die Flaggen in einer leichten Brise Patriotismus. Und wenn der zuletzt schwächelnde Miroslav Klose im ersten deutschen Spiel am Sonntag gegen Australien doch ein Tor schießen sollte, liegen sich vielleicht sogar mal Angela Merkel, Guido Westerwelle und Horst Seehofer in den Armen.

Selbst wenn mancher Fan der alten Schule es bedauern mag: Der Fußball ist längst mit mehr aufgepumpt als mit Luft und Leidenschaft. Er zeigt auf eine direkte und doch sinnliche Weise, wie eine Gesellschaft tickt, welche Gesichter sie haben kann. Beim Wunder von Bern 1954 war (West)-Deutschland wieder wer, nach dem Mauerfall jubelten Ost und West 1990 Seit’ an Seit’ über den Titel. Und 2006, bei der Sommermärchen-WM in Deutschland, die auch mit einem dritten Platz ein Gewinn war, entdeckte das Land seine freundlich-fröhliche Seite. Heute, 20 Jahre nach dem politischen Seitenwechsel, spiegeln sich in den Auftritten der Nationalspieler neue Geschichten, und das liegt nicht nur am Ausfall von Kapitän Michael Ballack. Es sind Geschichten aus einem sich schnell verändernden Land.

Eine junge, eigendynamische Mannschaft geht in Schwarz-Rot-Gold an den Start: Ein Team, das in einer Art Patchwork-Koalition mehrere Anführer auf dem Rasen erkoren hat und nicht nur einen. Ein Team, dessen Trainer einen wackligen Arbeitsvertrag besitzt. Ein Team, das in aller Welt verwurzelt ist und nicht nur in dem einen Heimatland. Ein Mesut Özil könnte plötzlich ein deutscher Star mit türkischer Verwandtschaft werden – und damit Spiegelbild einer sich weiter ausdifferenzierenden und dabei weltoffeneren Gesellschaft. Auch so schafft der Fußball Identität.

Die Welt retten wird das Spiel natürlich nicht, auch nicht Afrikas Probleme heilen, wie es Fifa-Präsident Joseph Blatter gerne verspricht. Aber den Blick weiten kann diese WM allemal, nicht nur den der Fans, die die Reise ans Kap angetreten haben. Heute, wenn Nelson Mandela die bisher größte Unterhaltungsshow in der Geschichte Südafrikas eröffnet, richten sich alle neugierigen Augen auf den Kontinent, der oft genug noch ein Blindfleck ist.

Anstoß kann der Fußball geben, wenn er angestoßen wird.

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