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Neues Wir-Gefühl. Marko Marin, Sami Khedira und Cacau jubeln nach dem 3:1 im Test gegen Bosnien.

© ddp

Nationalmannschaft: Untypisch deutsch

Jünger, internationaler, besser am Ball: Die Nationalelf 2010 ist anders als alle deutsche Teams zuvor. In ihren Schwächen könnte ihre Stärke liegen.

Wenn heute Abend die deutschen Nationalmannschaft zu ihrer WM-Mission nach Johannesburg abhebt, wird ein blinder Passagier an Bord sein – die Ungewissheit. Eine Nacht lang wird ein Team im Oberdeck des mehrstöckigen Flugzeuges sitzen, das drei Wochen getrimmt wurde, das aber auch gezeichnet ist von schmerzhaften Ausfällen prominenter Spieler wie Kapitän Michael Ballack, Torwart René Adler und Allrounder Heiko Westermann. Sicher ist, dass es sich um ein Team handelt, das jung ist – das meistgebrauchte Attribut der vergangenen Wochen. Genau genommen handelt sich um den jüngsten deutschen WM-Kader seit Menschengedenken. Also seit den dreißiger Jahren, als Schmeling Boxweltmeister war und Hertha die deutsche Meisterschaft gewann. Kurzum: Die Hoffnungen der Deutschen ruhen auf historisch jungen Füßen.

Und die wollen ernsthaft um den wichtigsten Titel der Welt mitspielen?

Und ob, sagt Joachim Löw, der Bundestrainer: „Wir fahren nicht nach Südafrika, um dort Erfahrungen zu sammeln. Ich denke, dass wir trotz der vielen Ausfälle dort ein sehr gutes Turnier spielen können.“ Denn so unerfahren, wie der Kader wegen des Durchschnittsalters von knapp 25 Jahren sein müsste, ist er gar nicht.

„Die Mannschaft von der EM 2008 war noch die logischen Konsequenz der WM 2006, aber 2010 haben wir eine sehr neue Mannschaft“, sagt Oliver Bierhoff. Es gehört zu den Kernqualitäten eines tüchtigen Managers, die Dinge gut zu verkaufen, manches Mal vielleicht besser, als sie in Wirklichkeit sind. Die Stimmung sei gut nach 21 Trainingslagertagen, „dass muss jetzt aber auch mit Leistungen auf dem Platz umgesetzt werden“, sagt er. „Teamgeist wird sich in schwierigen Situationen erweisen, nicht im Trainingslager.“

Der 42-Jährige darf sich ein Urteil erlauben in Sachen Turniererfahrung. Seit seinem Golden Goal im EM-Finale von 1996 ist der Teammanager der Nationalelf bei jedem großen Turnier dabei gewesen. Viermal als Spieler (EM 1996 und 2000, WM 1998 und 2002) sowie von 2006 an zweimal als Manager. Die jetzige WM wird sein siebtes Großturnier sein.

Um die Zusammenstellung des jetzigen Kaders zu verstehen, muss man zwei Jahre zurückblicken. Im Grunde war der deutschen Elf trotz der Finalteilnahme während des ganzen EM-Turniers nur ein einziges überragendes Spiel herausgerutscht: das 3:2 im Viertelfinale gegen Portugal. Anders als 2006 hatte das Team nie so richtig den Schwung kreieren können, der es bei der Heim-WM getragen hatte. Die strukturellen Probleme des damaligen Kaders waren unübersehbar. Der Bundestrainer hatte an Torwart Jens Lehmann trotz dessen Reservistendaseins beim FC Arsenal festgehalten und den nach langer Verletzungspause nicht fitten Christoph Metzelder sich durchs Turnier schleppen lassen. Auch Korsettspieler wie Torsten Frings und Miroslav Klose erreichten keine Höchstform. Weil es vorne wie hinten nicht stimmte, konnte die Mannschaft kaum auf Touren kommen.

Joachim Löw hat das eingesehen und nach der EM konsequent auf eine Neuausrichtung für die WM 2010 gesetzt. Die Zäsur traf zu allererst Lehmann und Metzelder, später sortierte Löw auch Frings aus. Verschmerzbare Eingriffe, einzig Ballacks Ausfall trifft die aktuelle Mannschaft.

Die „Sunday Times“ aus England hat neulich etwas Hässliches geschrieben. Von „German Chaos“ war da zu lesen, nachdem ein auf der Insel weitgehend unbekannter Fußballer namens Christian Träsch seinen Traum von der Weltmeisterschaft begraben musste. Dabei war es gar nicht um Träsch gegangen. Bedeutsamer war, dass der 22-jährige Stuttgarter als Back-up für Sami Khedira galt, der zwar auch nicht viel älter und bekannter ist, aber den Deutschen ihren Ballack zu ersetzen hat bei der WM. Genau genommen war Träsch der fünfte Spieler, der für die so bedeutende Position im zentralen, defensiven Mittelfeld ausgefallen ist. Zu verstehen war die Häme der Engländer nur, wenn man weiß, dass sie ein möglicher deutscher Gegner im Achtelfinale sind.

Inzwischen haben sich die Gemüter beruhigt. Im Lager der Deutschen herrscht der Glaube, etwas reißen zu können. Sicher, man habe viele junge Spieler dabei, aber diese hätten im Vorjahr bei der Europameisterschaft mit der U-21-Auswahl den Titel gewonnen. „Das ist prägend“, sagt Bierhoff, „sie hatten gemeinschaftlich Erfolg bei einem Turnier. Sie kennen sich und haben eine große Vorfreude auf die WM.“ Zu ihnen gehören gleich sechs Spieler: Manuel Neuer (24 Jahre), Dennis Aogo (23), Jerome Boateng (21), Sami Khedira (23), Mesut Özil (21) und Marko Marin (21). Hinzu kommen noch Holger Badstuber (21) sowie die beiden Jüngsten im Team, Toni Kroos (20) und Thomas Müller (20). In der deutschen Turniergeschichte gebe es sicher „erfahrene Spieler, die abgeklärter waren. Die aber auch sehr auf sich und ihre Leistung fixiert waren“, sagt Bierhoff. „Hier weiß jeder, dass es nur gemeinsam geht.“

Im Löw’schen Kader stehen nur zwei Feldspieler, die in den siebziger Jahren geboren wurden: der Berliner Arne Friedrich (31) und Klose, der kommenden Mittwoch 32 wird. Insofern ist der Ausfall Ballacks (33) problematisch. Es fehlt nicht nur der wichtige Spieler, sondern auch der, der dem Erneuerungsprozess eine gewisse Statik verliehen hat. Ein Jahrzehnt war er die Größe, um die herum sich die Mannschaft fast drastisch verjüngte. Und nach dem Ausfall von Westermann (27) und Simon Rolfes (28) fehlt der Gruppe der alterliche Mittelbau, also Spieler zwischen Ende zwanzig und Anfang dreißig. Man spricht dabei vom besten Fußballeralter, weil eine gewisse Erfahrung erlangt ist, wobei der Körper physisch noch nicht so abgebaut hat.

Stabilität und Halt müssen dem Team also Spieler verleihen, die von ihrem Alter her eigentlich noch gar nicht an der Reihe wären. Spieler wie Per Mertesacker (25), Philipp Lahm (26), Lukas Podolski (25) und Bastian Schweinsteiger (25), die kaum älter sind als die, die sie zu führen haben. Das sind Spieler der sogenannten goldenen Generation, die einst Jürgen Klinsmann in die Mannschaft warf und die schnell auf eine hohe Zahl von Länderspielen kam. Diese vier bringen es zusammen auf 274 Einsätze für Deutschland. Oder wie Kapitän Philipp Lahm es ausdrückt: „Wir sind jetzt so weit.“

Allerdings wohnt dem aktuellen Kader eine gewisse Unwucht inne. In der Spielmitte, wo das große Bild eines Spiels entworfen, wo der Rhythmus bestimmt wird, gibt es einen personellen Engpass. In den vergangenen zwei Jahren spielten dort Ballack, Frings, Rolfes, Träsch und Hitzlsperger. Spieler, die jetzt fehlen.

Und trotzdem geht der Bundestrainer – gehen eigentlich alle Spieler, die man fragt – von einem guten Gelingen aus. Die allgemeine Zuversicht gründet sich auf ganz unterschiedliche Annahmen. „In der Jugend ist man mit vollem Elan dabei, man möchte sich direkt in die Gruppe einbringen, möchte sich Respekt verschaffen. Das kann eine positive Dynamik erzeugen. Vielleicht wird die Jugend noch zu einem großen Vorteil für uns“, sagt etwa Mertesacker. Der hünenhafte Innenverteidiger findet die Mischung gerade gut. Aus ihr zieht er seinen Optimismus. Tatsächlich haben Teile dieser Mannschaft schon Turniere positiv bestritten. „Das gibt Sicherheit“, sagt er. „Auf der anderen Seite haben wir jetzt Spieler, die unbekümmert reinkommen, die ein neues Gefühl reinbringen können. Ich denke, die Mannschaft hat viele Facetten, viele Gesichter. Und wenn sie diese stärkt und sie positiv einbringt und auf dem Platz auch zeigt, dann kann es nur erfolgreich sein.“

Zu den Facetten gehört die „Internationalisierung der Nationalmannschaft“, wie Mertesacker es nennt. Auch in sofern fehlt dem aktuellen WM-Kader jedes historische Vorbild. Die Spieler, die einen Migrationshintergrund besitzen, machen inzwischen eine Elf aus. Oder: Man habe viele Spieler dabei, die nicht mehr „typisch deutsch“ spielten, wie es Lahm neulich erzählt hat, „sondern eher kleine, flinke Wirbler sind“. Mesut Özil, Marko Marin, Piotr Trochowski oder Cacau: Spielertypen, die aufgrund ihrer technischen Fähigkeiten den Ball gern am Fuß haben. Vielleicht ist es so, dass der deutsche Sturm in Klose und Gomez und Kießling nicht gerade Angst und Schrecken bei der Konkurrenz verbreitet, aber das deutsche Mittelfeld gehört zu den spieltechnisch anspruchsvolleren und torgefährlichsten.

„Unsere deutschen Fähigkeiten haben wir nach wie vor, entscheidende Tor können wir immer noch besser schießen als andere, und dazu kommen jetzt diese neuen Möglichkeiten.“ So hat es unlängst Philipp Lahm ausgedrückt. Die neuen Möglichkeiten – vielleicht trifft es das am ehesten. Die Deutschen können enttäuschen in Südafrika, sie können aber auch zur großen Überraschung werden.

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