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Nationalmannschaft: Zu jung für die WM?

Immer mehr Talente drängen in die Fußball-Nationalmannschaft – auch weil Bundestrainer Löw inzwischen weniger auf Routine setzt.

Man weiß nicht, was Matthias Sammer geritten hat. Vielleicht ist sein Temperament mit ihm durchgegangen. Sammers Lobrede jedenfalls kam quasi aus dem Nichts. „Marco Reus ist ein sehr guter Spieler mit einem sehr guten Bewegungsablauf. Er steht bei uns im Fokus, das ist überhaupt keine Frage.“ Ende November war das, als der Sportdirektor des Deutschen Fußball- Bundes (DFB) diese Eloge via Fernsehen live in die Öffentlichkeit entließ. Bis zu diesem Zeitpunkt war Reus, 20 Jahre alt, nur einer von vielen Nachwuchsspielern in der Bundesliga gewesen. Einer, von dem die meisten wahrscheinlich nicht einmal wussten, wie er überhaupt aussieht. Gerade 13 Spiele hatte Reus für Borussia Mönchengladbach bestritten, dabei drei Tore erzielt. Fortan aber war der Mittelfeldspieler offizieller Kandidat für einen Platz in der A-Nationalmannschaft.

Die Verantwortlichen der Borussia wurden von Sammers Einlassungen genauso überrascht wie Reus selbst – und sie waren von ihnen, vorsichtig ausgedrückt, nicht besonders erbaut. „Die A-Nationalmannschaft halte ich für total überzogen“, erwiderte Gladbachs Sportdirektor Max Eberl, „dafür sollte man seine Qualität erst über sehr lange Zeit nachgewiesen haben.“ Sein Münchner Kollege Uli Hoeneß hatte sich am Anfang der Saison ähnlich geäußert, als Thomas Müller schon nach ein paar Einsätzen in der Bundesliga von Bundestrainer Joachim Löw für nationalmannschaftstauglich befunden wurde. Doch ist der Nationalmannschaftsverdacht erst einmal in der Welt, wird man ihn so schnell nicht wieder los. Das erfährt gerade auch Marco Reus. Selbst das Fachmagazin „Kicker“ traut ihm zu, „Löws neuer Odonkor“ zu werden – der Überraschungsgast im deutschen Aufgebot für die Weltmeisterschaft in Südafrika.

Was David Odonkor vor vier Jahren geschafft hat – aus dem Nichts in den WM- Kader durchzustarten –, das wird es diesmal aber schon deshalb nicht geben, weil sich die Voraussetzungen grundlegend geändert haben. Es gibt in der Bundesliga keine unentdeckten Talente mehr. „Wir haben die Strukturen erheblich verjüngt und jetzt die jüngste Nationalmannschaft seit Langem“, sagt Joachim Löw. Der Bundestrainer hat sich nach und nach von seinem Ruf emanzipiert, ein eher vorsichtiger Geselle zu sein, der am liebsten an Bewährtem festhält. Seit der Europameisterschaft vor anderthalb Jahren hat Löw 15 Debütanten in seine Mannschaft eingebaut, allein 2009 setzte er in elf Länderspielen 34 verschiedene Spieler ein.

So viel Jugend war lange nicht im deutschen Fußball – und es wird fast täglich mehr. Wenn man alle Meldungen der vergangenen Wochen ernst nähme, müsste Bundestrainer Löw in fünf Monaten mit einer punktuell verstärkten U 21 zur Weltmeisterschaft nach Südafrika reisen. Mesut Özil, 21, Jerome Boateng, 21, und Marko Marin, 20, gehören bereits zum Stamm der Nationalmannschaft, obwohl sie noch für die U 21 spielen dürften. „Sie sind zu Recht dabei, weil sie schon stabile Leistungen abgeliefert haben“, sagt Rainer Adrion, Trainer des deutschen Nachwuchses. Aber die drei sind längst nicht mehr die einzigen Junioren-Nationalspieler, die derzeit in die Nähe des A-Teams geredet und geschrieben werden. Die kurzfristige Perspektive Nationalmannschaft besitzen neben dem Gladbacher Reus auch die Dortmunder Mats Hummels, 21, und Sven Bender, 20, der Schalker Innenverteidiger Benedikt Höwedes, 21, die Münchner Holger Badstuber und Thomas Müller, beide 20, und vor allem Toni Kroos, 20, von Bayer Leverkusen.

„Es wird viel spekuliert“, sagt Adrion. „Natürlich sind das Spieler, die viel Entwicklungspotenzial haben. Aber sie müssen erst einmal beweisen, dass sie konkurrenzfähig zum vorhandenen Personal sind.“ Toni Kroos vom Spitzenreiter Leverkusen gelingt das immer besser. Unmittelbar vor der Winterpause war er der dominierende Spieler der Bundesliga. Dass der Mittelfeldspieler irgendwann in der Nationalmannschaft landen wird, gilt ohnehin als sicher. Warum also nicht schon bei der WM? „Wenn Toni so weiterspielt, wäre der Bundestrainer ja dumm, ihn nicht mitzunehmen“, sagt Kroos’ Vereinstrainer Jupp Heynckes.

Bis Löw seinen Kader für die Weltmeisterschaft nominieren muss, bleibt ihm nur noch das Testspiel Anfang März gegen Argentinien. Dass der Bundestrainer die Begegnung für wilde Experimente nutzt, ist eher nicht zu erwarten. Doch Löw sagt: „Wir brauchen in der Nationalmannschaft den konsequenten Einbau junger Spieler, und zwar vor den großen Turnieren. Diese Spieler haben zwar nicht die Erfahrung der älteren Profis, aber sie bringen eine hochwillkommene Dynamik in die Mannschaft.“

Vor der EM 2008 hat der Bundestrainer noch grundsätzlich anders gedacht. Bei seinem ersten großen Turnier in verantwortlicher Position entschied er sich im Zweifel lieber für Routine und gegen jugendlichen Leichtsinn, damals wagte Löw es noch nicht, die alten Strukturen aufzubrechen. Sein Wagemut erschöpfte sich darin, den 19 Jahre alten Zweitligaspieler Marko Marin in seinen vorläufigen Kader zu berufen. Im endgültigen Aufgebot fehlte Marin dann genauso wie der damals 24 Jahre alte Patrick Helmes. Löw nominierte als fünften Stürmer lieber den elf Jahre älteren Oliver Neuville.

Der Mentalitätswandel des Bundestrainers lässt sich am besten mit der Personalie Jerome Boateng illustrieren. Als der Verteidiger vom Hamburger SV vor dem entscheidenden WM-Qualifikationsspiel Mitte Oktober in Russland erstmals zum Aufgebot der Nationalmannschaft gehörte, waren sich alle Beobachter einig, dass Boateng in dieser wichtigen Partie sicher nicht von Anfang an spielen würde, dass Löw ihm den Routinier Arne Friedrich vorziehen würde. Wider die allgemeine Erwartung aber entschied sich Löw für die gewagte Variante – und er wurde für seinen Mut belohnt. Boateng machte trotz seines Platzverweises in der zweiten Halbzeit ein gutes Spiel, die Deutschen gewannen 1:0 und qualifizierten sich direkt für die WM.

„Wir haben viele Spieler mit großen Talenten, die den Anspruch erheben, sich in die Nationalmannschaft zu entwickeln“, sagt U-21-Trainer Adrion. Spieler, die trotz ihrer Jugend bereits regelmäßig in der Bundesliga zum Einsatz kommen, bei ihren Klubs längst Stammspieler sind oder sogar wie Toni Kroos wichtige Leistungsträger. Das war lange Zeit anders. Deshalb ist der personelle Wandel in der Nationalmannschaft Ausdruck einer erfreulichen Entwicklung im deutschen Fußball. Der Altersschnitt in der Bundesliga lag in der Hinrunde bei 26,25 Jahren – so niedrig wie seit 1990 nicht mehr. Als erster Verband überhaupt gewann der DFB 2008/09 innerhalb eines Jahres alle EM-Titel im Nachwuchs (U 17, U 19, U 21). „Die Erfolge sind nicht zufällig“, sagt Adrion. Sie sind das Resultat einer kontinuierlichen und systematischen Talentförderung, die der DFB Anfang des Jahrtausends auf den Weg gebracht hat, als der deutsche Fußball seine vermeintlich gottgegebene Stärke endgültig eingebüßt hatte.

Langsam fangen die Investitionen an, sich richtig auszuzahlen. Die ersten Spieler, die das komplette Nachwuchsprogramm durchlaufen haben, sind jetzt bei den Profis angekommen. Dadurch besitzt Bundestrainer Löw personelle Möglichkeiten, von denen alle seine Vorgänger seit Franz Beckenbauer nicht einmal träumen konnten. „Er bekommt eine junge Generation aus U-21- und U-19-Europameistern, eine Situation, wie es sie in Deutschland lange nicht mehr gab“, sagt Michael Ballack, der Kapitän der Nationalmannschaft. „Das sind für die nächsten fünf bis zehn Jahre keine schlechten Perspektiven.“

Was in fünf oder zehn Jahren ist, wird Michael Ballack allenfalls noch aus der Ferne mitkriegen. Was in diesem Sommer ist, soll er noch einmal entscheidend mitbestimmen. So glänzend die Perspektiven des deutschen Fußballs für die Zukunft auch sein werden, in Südafrika wird Joachim Löw wieder uneingeschränkt auf die Klasse seines Kapitäns setzen. Vielleicht zum letzten Mal. Zwei Monate nach dem WM-Finale wird Michael Ballack 34.

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