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WM-Bälle: Eine Jagd um die Welt

Die Idee, die Technik, die Recherche - und die Reisen: der Fotograf Jens Heilmann und seine Weltmeisterschafts-Bälle.

Er ist weniger Fußballfan und viel mehr Künstler. Er denkt in Serien von Bildern und in Konzepten. Er hat auf Fotos Schrottteile und Schraubenmuttern, sogar Sexspielzeug wie moderne Skulpturen aussehen lassen. Was Jens Heilmann also vor drei Jahren interessierte, war: Hatten die WM-Bälle der vergangenen Jahrzehnte das gleiche Design? Unterschiedliche Farben? Wurden sie je zuvor aus einer Hand fotografiert? Er wurde neugierig.

Erste Recherchen zeigten nur miserabel Fotografiertes. Vor allem fanden sich nur wenige Informationen zu den Originalen. Offenbar interessierte sich die Welt beim Fußball lediglich für Tore und Fallrückzieher, für Elfmeter und brutale Fouls. Nur dieses formschöne Spielgerät, um das sie alle mit Leidenschaft kämpfen – es wird einfach ignoriert.

Heilmann experimentierte im Studio. Seine Fußbälle sollten magisch wirken. Keine harten Ränder. Keine dominanten Spiegelungen. Er wusste, die Bälle würden unterschiedlich glänzende Oberflächen haben. Fotografisch würde er das irgendwie schaffen.

Seine erste Tour führte zu Adidas. Herzogenaurach, im Fränkischen. Seit Ewigkeiten schon versorgt diese Firma die ganze Welt mit Fußbällen. Im Firmenarchiv lagen unzählige Exemplare, auch von den Weltmeisterschaften ab 1974 bis heute. Heilmann fuhr weiter nach Frankfurt, zur Zentrale des Deutschen Fußball-Bundes. Hier wird der Ball des Finales von ’54 in einem Tresor verwahrt. Noch ein Foto. Wie faszinierend die ersten Bilder aussahen! Es war Sommer 2007, noch drei Jahre bis zur WM in Südafrika. Der Fotograf wähnte sich kurz vor dem Ziel. Ein großer Irrtum, wie sich zeigen sollte.

Heilmann reiste nach Preston, England, um Bälle der Weltmeisterschaften 1930 und ’66 abzulichten. Er schrieb Verbände an, Firmen, Museen, immer auf der Suche nach Original-Bällen, mit denen bei Weltmeisterschaften gekickt worden war. Er schickte E-Mails rund um den Globus. Er bat um Genehmigungen, fotografieren zu dürfen, fragte nach Wegen, die ein Ball genommen haben könnte. Man muss sich das nur einmal vorstellen: Der Ball, den nach dem Finale 1938 vielleicht der Platzwart mit nach Hause genommen hatte, wo mag der sein? Existiert er noch?

Anfang 2008 fuhr Heilmann nach Florenz ins Museo del Calcio, wie stets mit fünf Aluminiumkisten: Blitzgeneratoren, Kamera, Stative, Lampen, Filmkassetten ...: 100 Kilo Gepäck. Danach hatte er die Bälle 1934, ’38 und ’62 auf seinen Planfilmen, 10 x 13 Zentimeter.

Heilmann: "Die Experten hätten mich für Fehler zerrissen"

Heilmann entschied: Die Geschichte jedes fotografierten Balles sollte einwandfrei dokumentiert werden, es dürfte sich nur um Bälle handeln, die bei Weltmeisterschaften benutzt worden waren. Am 50er-Ball bestanden Zweifel. Die FIFA schwieg. Ballhersteller konnten nicht helfen. Bei jeder Fußball-WM kamen ja Dutzende von Bällen zum Einsatz, inzwischen sind es sogar 15 bei jedem Spiel. Heilmann flog in die USA, Oneonta, New York. Nach dem Besuch der National Soccer Hall war ein weiterer Ball im Kasten: der einzig verlässlich dokumentierte von 1950.

Ich sah die Fotos erstmals im Herbst 2009. Die Bilder wirkten, als würde ich durch ein Fernrohr auf fremde Planeten blicken. Und doch: Roch der Ball von 1938 nicht nach Lederfett? Trug der 98er nicht Kratzspuren von Stiefelstollen? Ich glaubte, beim Exemplar von 1962 den Staub in der Nase zu spüren, der sich in den Nähten des Balls eingenistet hatte.

Der Blick auf Jens Heilmanns Bilder ist wie der Gang durch ein archäologisches Museum. Sichtbar wird eine Entwicklung von 80 Jahren, von technischer Innovation, von Design. Später zeigte mir Heilmann in seinem Studio, wie er seine magischen Effekte erzielt. Er hat einen Zylinder gebaut, etwa 60 Zentimeter hoch, die untere Hälfte mit schwarzem Filz ausgeschlagen, die obere milchweiß. Der Zylinder steht auf schwarzem Grund, darauf ein Ball. Mit dessen Höhe lassen sie die Spiegelungen regulieren. Aus vier Richtungen wird nun auf die milchige Folie geblitzt, dies sorgt für die samtweiche Kante auf den Fotos. Von oben fotografiert Heilmann mit einer „Linhof Master Technica“, voluminös wie ein Schuhkarton, eine Großformatkamera. Stets drei Belichtungen pro Ball, Blenden 22, 32 und 45.

Im Oktober 2009 hörte der Fotograf einen wichtigen Namen: René Sopp. Ein anerkannter Sammler von Fußballdevotionalien, Wohnsitz Leipzig, weltweit vernetzt mit anderen Experten. Wie ein Kriminalist, der Falschgeld identifiziert, sieht Sopp an winzigen Merkmalen, ob Bälle nur Bälle sind oder bei einer Weltmeisterschaft eingesetzte Objekte. Einige von Heilmanns bislang fotografierten Bällen waren, nun ja, historisch zweifelhaft. Mit denen hätten ihn später Experten, so fürchtet der Fotograf, „in der Luft zerrissen“. Aus Sopps Kollektion stammen die Bälle von 1990, 2002 und 2006. Der Sammler Roger Saur schickte per Luftfracht die Bälle von 1994 und 1998 aus New York City, USA. An Weihnachten flog Heilmann zu Francisco Aquino nach Guadalajara an der Pazifikküste Mexikos und fotografierte dort einen Ball von 1970, den weltweit einzig dokumentierten.

Ein Hinweis führte zu Erich Linemayr nach Linz, einem Schiedsrichter: 1974 und 1978 konnten abgehakt werden. Das Sportmuseum Basel war hilfsbereit: Einen weiteren von ’54, dazu ’62 und ’66. So ging es voran. Und nun, im Frühsommer 2010, konnte Jens Heilmann schließlich sagen: Es ist vollbracht. Nach drei Jahren und einigen tausend E-Mails, nach endlosen Telefonaten zwischen allen Beteiligten und langem Tüfteln an der aufwendigen Gestaltung und Produktion, nach zeitraubenden Recherchen für die Texte. Nach Flügen um die halbe Welt und nach Autofahrten kreuz und quer durch die Schweiz, Ungarn, Österreich, Italien, England ..., nach unzähligen Rückschlägen und nach noch mehr Unterstützung von Menschen, die sich von der Magie der Bälle hatten mitreißen lassen.

Nun leuchten diese Fußbälle auf den Fotos wie Monde in der Nacht.

Mehr Informationen zu Jens Heilmanns Projekt unter:
www.dieweltmeisterschaftsbaelle.de

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