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Rechts, halbhoch, Finale.

© picture-alliance / Sven Simon

WM-Halbfinale 1990: Für Shilton hat’s gereicht

Olaf Thon erzählt seinen WM-Moment: Er spielte 1990 gegen England erstmals von Anfang an, er überzeugte – und verwandelte den letzten Elfmeter.

Ich bin in meiner Karriere ganz bestimmt kein perfekter Elfmeterschütze gewesen. Aber die wichtigen Elfmeter sind alle reingegangen: 1997 im Uefa-Cup-Finale gegen Inter Mailand und auch 1990 im WM-Halbfinale gegen England. Ich war unser vierter Schütze. Nach mir kam nur noch Chris Waddle, der jagte den Ball über die Latte, wir standen im Finale und wurden später Weltmeister. Wenn ich heute die Bilder sehe, muss ich ein bisschen schmunzeln. Wie ich nach meinem Elfmeter die Faust balle, dazu der Schnauzer, den ich im Gesicht getragen habe. Heute ist das ja nicht mehr unbedingt der Mode letzter Schrei. Aber ich find’s lustig.

Das schönste Spiel meiner Karriere war das Halbfinale im DFB-Pokal 1984, als ich beim 6:6 gegen Bayern München drei Tore erzielte, das Wiederholungsspiel haben wir leider verloren. Das Halbfinale gegen England in Turin kommt auf Platz zwei. Es war das erste Mal, dass ich bei der Weltmeisterschaft in Italien von Anfang an spielen durfte. Fünf Stunden vor dem Anpfiff war Franz Beckenbauer auf unser Zimmer gekommen. Hans Pflügler und ich, wir hatten uns gerade zum Mittagsschlaf hingelegt. Beckenbauer fragte mich, ob ich mir zutraute, gegen England zu spielen. „Weswegen bin ich sonst hier?“, habe ich geantwortet.

Ich hatte mich durch gute Trainingsleistungen in das Turnier reingekämpft. Zweifel? Nein, Zweifel hatte ich keine – obwohl es an ein Wunder grenzte, dass ich überhaupt im WM-Kader stand. Im Dezember hatte ich mich schwer verletzt, ein halbes Jahr war ich ausgefallen, neun Wochen lang mussten mein Schien- und mein Wadenbein mit einer Stellschraube zusammengehalten werden. Erst im April konnte ich wieder spielen. Franz Beckenbauer hatte mich trotzdem nominiert. Er hat oft das richtige Gespür für die Situation besessen. Man sagt jedenfalls, dass ich im Halbfinale gegen die Engländer ein herausragendes Spiel gemacht habe. Sagen wir so: Ich war an diesem Tag gut drauf, aber wir haben alle gut gespielt. Genauso wie die Engländer. Es wurde ein spannendes und aufregendes Spiel, mit Vorteilen für uns. Wir lagen lange in Führung, erst zehn Minuten vor Schluss erzielte Lineker den Ausgleich. In der Verlängerung haben beide Mannschaften je einmal den Pfosten getroffen – und dann kam das Elfmeterschießen.

Viele Spieler versuchen in solchen Situationen, sich irgendwie unsichtbar zu machen. Wir hatten damals genügend Leute, die sich der Verantwortung gestellt haben. Ich bin ganz schnell zu Franz Beckenbauer hingerannt, um auf jeden Fall zu den ersten fünf Schützen zu gehören. Einige Spieler waren bei uns gesetzt, Lothar Matthäus und Andreas Brehme zum Beispiel. Aber ich wollte auch unbedingt schießen. Meine Überlegung war: Wenn ich treffe und wir gewinnen, steigen die Chancen, dass ich im Finale spiele.

Unmittelbar bevor ich an die Reihe kam, hatte Stuart Pearce den ersten Elfmeter für die Engländer verschossen. Bodo Illgner konnte den Ball mit dem Knie abwehren. Für mich war das eine komfortable Situation. Selbst wenn ich nicht treffen würde, wäre noch nichts verloren. Aber ich hatte Peter Shilton bei den Elfmetern von Riedle, Matthäus und Brehme genau beobachtet. Er blieb immer lange stehen. Eigentlich sprang er erst, wenn der Ball schon im Tor war. Mit 40 war er ja nicht mehr der Jüngste. Ich habe zu mir gesagt: „Versuch einfach nur das Tor zu treffen, nicht zu viel Risiko.“ So war es dann auch. Shilton spekulierte, er täuschte einen Schritt nach links an, ich schoss den Ball halbhoch in die rechte Ecke. Perfekt ist anders. Aber für Shilton hat’s gereicht.

Natürlich habe ich mir danach gute Chancen ausgerechnet, auch im Endspiel wieder in der Startelf zu stehen. Aber die Konkurrenz in unserem Kader war groß, gerade im offensiven Mittelfeld. Pierre Littbarski und Uwe Bein, die gegen England angeschlagen gefehlt hatten, waren wieder fit. Hinzu kamen Thomas Häßler, Andreas Möller und ich. Franz Beckenbauer hat uns fünf nach dem Abschlusstraining zu sich gerufen und gesagt, dass nur zwei von uns spielen könnten. Das waren Thomas Häßler, der uns mit seinem Tor gegen Wales zur WM geschossen hatte, und Pierre Littbarski, der die meisten Länderspiele hatte. Für mich war’s das. Ich bin aufgestanden und gegangen.

Für diese Aktion hätte ich sogar aus dem Kader fliegen können, aber ich durfte im Finale zumindest auf der Bank sitzen und mich in der zweiten Halbzeit warmlaufen. Vermutlich hat Franz Beckenbauer in der ganzen Aufregung einfach vergessen, mich einzuwechseln. Wenn Andreas Brehme nicht das 1:0 erzielt hätte, wäre ich wohl in der Verlängerung ins Spiel gekommen. Aber so war es natürlich auch gut. Wir sind Weltmeister geworden. Wir? Ja, wir! Ich fühle mich auch als Weltmeister, obwohl ich im Endspiel nicht gespielt habe. Die Enttäuschung darüber hat nicht lange angehalten. Schon auf dem Weg vom Stadion ins Hotel habe ich für mich beschlossen: Mein Finale ist das Halbfinale gewesen.

Aufgezeichnet von Stefan Hermanns. Nächste Folge: Tom Dooley über die WM 1994 in den USA.

* WM 1990, Olaf Thon

Olaf Thon

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