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WM Nebenschauplatz: Deutschland liegt an der Themse

Die meisten Gäste des Londoner Pubs „Zeitgeist“ sind Exil-Deutsche, die Arbeit, Urlaub oder sonst ein triftiger Grund auf die Insel verschlagen hat.

Das Bitburger kostet zwei Pfund, ein Schnitzelbrötchen das Gleiche. Die meisten Gäste des von einem Kölner geführten Pubs „Zeitgeist“ im Herzen der britischen Haupstadt sind Exil-Deutsche, die Arbeit, Urlaub oder sonst ein triftiger Grund auf die Insel verschlagen hat. Jonathan Charwat dagegen ist Engländer. Jonny, wie ihn alle nennen, ist in Nottingham aufgewachsen, hat in der Schule Rugby gespielt, studiert jetzt in London. Wenn heute England gegen Deutschland spielt, schreit Jonny im „Zeitgeist“ für die Deutschen.

Alles beginnt vor 20 Jahren. Im Halbfinale der Weltmeisterschaft in Italien trifft England auf Deutschland. Bei den Charwats wird die Begegnung im Familienkreis geschaut. Das bedeutet: alle gegen einen. Jonnys Vater, der aus dem hessischen Obertshausen stammt, sieht sich den fünf Brüdern seiner englischen Frau gegenüber. Jonny, damals fünf Jahre alt, schlägt sich auf Papas Seite. „Als einziger Sohn musste ich ihn unterstützen“, sagt er. Deutschland gewinnt das Duell in Turin im Elfmeterschießen, „natürlich“, wie Jonathan heute mit einem Lachen sagt. Seitdem trägt er den Adler im Herzen – und blockt alle Missionierungsversuche der englischen Verwandtschaft ab. „An Weihnachten gab es für mich immer ein England-Trikot“, schmunzelt er. Angezogen hat er nie eines.

Stattdessen besitzt Jonny heute alle deutschen Trikots seit 1954. Er ist Mitglied im „Fanclub Nationalmannschaft“, hat bei der WM 2006 das 2:0 gegen Schweden im Stadion verfolgt. Auch als die DFB-Kicker das erste Spiel im neuen Wembley-Stadion gewannen, war er da. Im deutschen Block.

Als erklärter Deutschland-Fan in England ist es für ihn zuweilen nicht ungefährlich. „Die Engländer sind immer für England und für alle, die gegen Deutschland spielen“, sagt Jonny. Als er mit 16 Jahren im DFB-Trikot vor einer Kneipe stand, empfahl ihm ein knorriger Brite, die Lokalität schleunigst zu verlassen. „In deinem eigenen Interesse“, wie er unmissverständlich hinzufügte. Auf dem Weg zum Pub zog Jonny fortan immer einen Pulli über den Adler-Dress. Einmal stieg nach einem Spiel ein Mob eines Londoner Lokalklubs zu ihm in die tube – und nötigte ihn, alle deutschen Insignien zu bedecken.

Auch in der Schule wurde der englische Deutschland-Fan argwöhnisch beäugt. „Das war schon immer komisch“, erinnert er sich. Besonders wenn Deutschland mal wieder in einem wichtigen Spiel auf England traf. „Vor dem EM-Halbfinale 1996 habe ich in der Schule tagelang dumme Sprüche gehört“, erinnert er sich. „Am Tag danach waren alle ruhig.“ Deutschland hatte im Elfmeterschießen gewonnen. Wieder einmal. Auch deswegen sagt Jonny über das heutige Match: „Deutschland muss gewinnen!“ Es geht schließlich auch um seine Zukunft. „Wenn Deutschland verliert, bekomme ich das in den nächsten 20 Jahren zu hören“, sagt er.

Tragen wird er das Jersey, mit dem Deutschland die EM 1996 gewonnen hat – in England, Jonnys Heimat. Zumindest wenn kein Fußball ist. Johannes Ehrmann

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