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Völlig unaufgeregt. Bundestrainer Jörg Dittwar (links) eröffnete mit seinem verwandelten Elfmeter das Fußball-ID-Turnier am Werbellinsee. Foto: promo

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Fußballer mit intellektueller Beeinträchtigung: Gefoult von der Gesellschaft

Deutschlands Fußballer mit intellektueller Beeinträchtigung haben es schwer – manchmal sind die eigenen Eltern der ärgste Gegner.

Joachimsthal - Panik steht in den Augen des Torwarts. „Scheiße, scheiße, scheiße“, sagt er. Er hält den Ball in der Hand und sucht einen Mitspieler. „Scheiße, scheiße, scheiße“, sagt er wieder. Dann wirft er den Ball weg. Er landet beim Gegner. „Scheiße, scheiße, scheiße.“ Auf dem Spielfeld nebenan sagt Jens von den Stephanus-Werkstätten Berlin zu seinem Teamkollegen Justin: „Ich liebe dich. Wirklich, ich liebe dich.“ Kurz zuvor hatte sich Jens von einem Betreuer noch anhören müssen, dass er endlich aufhören solle, schlechte Stimmung zu verbreiten. „Du findest die Matratze scheiße, du findest das Essen scheiße, du findest alles scheiße“, hatte der ihn angeraunzt. Woraufhin Jens versprach: „Ich bin jetzt positiv.“

Es war einiges los auf dem Fußballplatz der Europäischen Jugenderholungs- und Begegnungsstätte am Werbellinsee in Joachimsthal. Dort wurde unter der Woche über drei Tage ein Fußball-ID-Turnier ausgetragen; ID ist die Abkürzung für „intellectual disability“ (auf Deutsch: intellektuelle Beeinträchtigung). Auch Fußball-ID-Bundestrainer Jörg Dittwar war an den Werbellinsee gekommen, um vielleicht einem wie Justin von den Stephanus-Werkstätten bald eine Chance in der Nationalmannschaft zu geben.

Der ehemalige Bundesligaprofi Dittwar braucht dringend neue Spieler für sein Team. Bei der Weltmeisterschaft in Brasilien im vergangenen Jahr verloren Deutschlands ID-Fußballer bis auf ein Remis zum Auftakt dreimal, darunter ein 0:7 gegen Japan. Bei der Europameisterschaft zwei Jahre zuvor lief es nicht viel besser.

Nun liegt das schlechte Abschneiden der deutschen ID-Fußballer gewiss nicht an Leuten wie Dittwar, seinem Co-Trainer Herbert Harrer oder Teammanager Reinhold Brendel. Die drei lieben den Fußball und vor allen Dingen die Arbeit mit den Spielern. Anders würde sich der ganze Aufwand, den sie betreiben, auch nicht erklären. Sie arbeiten auf Honorarbasis, häufig fahren sie auf eigene Rechnung zu Turnieren, um sich nach Talenten umzusehen. „Wir brauchen mehr Geld“, sagt Dittwar.

Fußball ID läuft unter dem Dach des Deutschen Behindertensportverbandes. Die Ressourcen, die von diesem für die Fußballer bereitgestellt werden können, reichen hinten und vorne nicht. Der Deutsche Fußball-Bund (DFB) lässt die ID-Fußballer bis auf die Zuwendungen durch die wenig nachhaltige Sepp-Herberger-Stiftung links liegen und ein Fördersystem ist in Deutschland im Vergleich zu vielen anderen Ländern so gut wie nicht vorhanden.

Dittwar, Harrer und Brendel sind Einzelkämpfer. Sie sind Klinkenputzer, sie bitten Politiker, Sponsoren oder auch Kumpels um Hilfe bei der Suche nach neuen Einnahmequellen. Das Turnier in Joachimsthal konnte auch nur deshalb stattfinden, weil ein Unternehmen einen Großteil der Kosten für das Turnier übernahm. Es ist ein täglicher Kampf, und dass der so hart geführt werden muss, liegt auch daran, wie die Gesellschaft in Deutschland mit intellektuell Beeinträchtigten umgeht.

Dittwar hat vieles erleben müssen, er erzählt ungeheuerliche Geschichten. So habe ihn einmal der Vater eines Spielers gebeten, dass der volle Name seines Sohnes nicht über die Lautsprecher des Stadions genannt werden solle. Der eigene Sohn sei ihm peinlich gewesen. Kein Einzelfall. Vor ein paar Jahren, sagt Dittwar, habe er ein großes Talent entdeckt und wollte es zur Nationalmannschaft holen. Die Eltern aber verwehrten ihrem Sohn die Chance – aus Angst, die Nachbarn könnten dann mitbekommen, dass sie ein Kind mit einer geistigen Behinderung hätten. „So etwas trifft mich und macht mich richtig sauer“, sagt Dittwar. Co-Trainer Harrer spricht davon, dass „in Deutschland Menschen mit intellektueller Beeinträchtigung immer noch versteckt werden“.

Dabei wäre die Betreuung der ID-Fußballer auch ohne die genannten Probleme schon eine große Herausforderung. Dittwar ist keiner, der ein Blatt vor den Mund nimmt. Er mag seine Jungs, aber manchmal regen sie ihn furchtbar auf. Gerade bei längeren Reisen, bei Welt- oder Europameisterschaften, könne es richtig anstrengend werden, erzählt er. Vor allem, wenn man ihnen Dinge verbiete, die sie im Alltag gewohnt seien. Exzessive Smartphone-Nutzung und Rauchen zum Beispiel. „Ein Behinderter braucht Rauch“, habe ein Spieler einmal zu ihm gesagt, berichtet Dittwar.

Es gab Momente, da überlegten Dittwar, Harrer und Brendel, ob sie den einen oder anderen Spieler heimschicken sollten. Sie haben es dann nicht getan. Weil ihnen die Jungs so sehr am Herzen liegen.

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