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© Verlag Die Werkstatt

Fußballgeschichte: Hertha zur Nazi-Zeit: Anpfiff nach dem Luftangriff

Warum Hertha BSC auch in der Endzeit des Zweiten Weltkriegs noch antrat – und ein Zwangsarbeiter der beste Spieler des Berliner Vereins war.

Im Januar 1945 dämmert auch den hundertfünfzigprozentigen Nazis, dass es wohl nichts werden wird mit dem Endsieg. Die Rote Armee steht an der Oder und plant den Sturm auf Berlin, aber die braunen Machthaber tun alles dafür, der Bevölkerung ihrer Hauptstadt so etwas wie Normalität vorzuspielen. Dazu gehört unbedingt, dass Fußball gespielt wird, als kriegswichtige Ablenkung von alldem, was da noch kommen wird. Am 7. Januar 1945 tritt Hertha BSC, der amtierende Meister der Gauliga Berlin-Brandenburg, gegen die KGS Lufthansa/Viktoria an. KGS steht für Kriegsspielgemeinschaft, kaum noch ein Verein bekommt von sich aus elf Spieler zusammen. Hertha gewinnt 8:1, allein sechs Tore schießt der holländische Stürmer Bram Appel. „Ein Typ wie Michael Preetz“, sagt Daniel Koerfer, „hochgewachsen, schlank und schlaksig.“ Und einer, den heute keiner mehr kennt.

Daniel Koerfer ist Historiker, er hat Bram Appel nie spielen sehen, ihn aber sozusagen neu entdeckt. Bram Appel ist einer der heimlichen Helden in Koerfers Buch „Hertha unter dem Hakenkreuz – ein Berliner Fußballclub im Dritten Reich“, das seit Mittwoch im Handel ist. Keine Vereinschronik nennt den Namen des Mannes, der Hertha 1944 ein letztes Mal zur Berliner Meisterschaft schoss.

Abraham Leonardus Appel, genannt Bram, ist 1942 nach Berlin verschleppt worden. Mit 2000 weiteren Zwangsarbeitern aus Holland, Belgien, Frankreich Polen und der Ukraine haust er in einem Lager in Niederschöneweide, tagsüber produziert er in einem der zahlreichen Berliner Rüstungsbetriebe Waffen und Munition für den deutschen Endsieg. Appel ist 21 Jahre jung und kräftig, aber er wäre wohl an der körperlich schweren Arbeit zugrunde gegangen oder bei einem der ungezählten Bombenangriffe ums Leben gekommen. Sein Hoffnungsschimmer in der katastrophalen Lage ist, dass er Fußball spielen kann. Und zwar so gut, dass Herthas Trainer Hans Sauerwein auf ihn aufmerksam wird.

Keine Vereinschronik nennt den Mann, der Hertha 1944 zur Berliner Meisterschaft schoss

Sauerwein ist Parteimitglied seit 1933, die Jugendspieler lässt er vor dem Training den Arm zum Hitlergruß erheben. Und er hat beste Beziehungen zu den Arbeitsämtern. Da Appel als „Fremdarbeiter germanischer Abstammung“ ziemlich weit oben in der rassischen Hierarchie der nationalsozialistischen Arbeitssklaven steht, darf er fortan für den populärsten Klub der Stadt Fußball spielen, was mit allerlei Privilegien verbunden ist. In einem Interview mit einem holländischen Fanzine, der Buchautor Daniel Koerfer hat es während seiner Recherchen aufgestöbert, erinnert sich Appel: „Weil ich für Hertha offenbar ein ziemlich wichtiger Spieler war, hatte ich immer genug zu essen. Der Klub sorgte dafür, dass ich schnell eine relativ sichere Arbeit bekam ... In einer Fabrik zu arbeiten war immer gefährlich. Denn jede Fabrik war bei den Bombardierungen eine beliebte Zielscheibe. Die Chefs gingen in den Luftschutzkeller, die Arbeiter mussten bei den Maschinen bleiben … Über Hertha bekam ich einen sehr viel sichereren Arbeitsplatz in einem Büro.“ Dazu darf er eine Wohnung am Stadtrand in Ruhleben beziehen.

Der Zwangsarbeiter Appel spielt zwei Jahre lang für Hertha. Schon in seinen ersten vier Spielen auf regionaler Ebene erzielt er 15 Tore. In der Saison 1943/44, als sein Klub ein letztes Mal Meister der Gauliga Berlin-Brandenburg wird, schießt Appel in 14 Spielen zwölf Tore und später noch mal vier in den drei Endrundenspielen um die Deutsche Meisterschaft.

Am 9. Januar 1944 feiert der „Völkische Beobachter“ den „Holländer Appel“ als „überragenden Stürmer und Torschützen“. Wie und warum der Mann aus Holland zu Hertha gekommen war, verschweigt das Parteiblatt der Nazis. Andere Zeitungen nennen ihn Leo, nach seinem zweiten Vornamen Leonardus. „Den Namen Abraham fanden sie wahrscheinlich zu jüdisch“, wird Appel später erzählen.

In seinen Berliner Jahren erlebt er um die 200 Luftangriffe. Einmal, im Februar 1944, hilft er Ernst Himmler, dem jüngeren Bruder des berüchtigten SS-Führers, beim Entschärfen einer Phosphorbombe, „er erzählte mir auch immer die Geschichten von der schönen germanischen Rasse“.

Immer häufiger müssen Fußballspiele wegen Bombenalarms unterbrochen werden. Am 2. Mai 1944 spielt Hertha am Gesundbrunnen gegen Holstein Kiel. In den Morgenstunden greift die amerikanische Luftwaffe Ziele im Wedding an, vermutlich, um die Produktionsstätten der AEG an der nahe gelegenen Brunnenstraße zu treffen. Rund um den Herthaplatz liegen Schwerverletzte und Sterbende, aber das Spiel darf nicht abgesetzt werden. „Die Schmerzensschreie der Verbrannten, Verschütteten, Verletzten gingen gewissermaßen über in die Jubelschreie der Zuschauer“, schreibt Koerfer. „Hertha BSC und Holstein Kiel spielten in diesem Augenblick wirklich, um für wenige 90 Minuten viele Berliner den Schrecken vergessen zu lassen, den sie gerade wieder erlebt hatten.“
Für 90 Minuten sollten die Berliner den Schrecken vergessen

Der Zwangsarbeiter Bram Appel ist bis zum Schluss dabei. In seinem letzten Spiel für Hertha läuft er gemeinsam mit dem schon 44 Jahre alten Hanne Sobek auf. Es ist jenes Spiel am 7. Januar 1945 gegen die KGS Lufthansa/Viktoria. Gespielt wird auf dem TiB-Platz am Columbiadamm, ganz in der Nähe des berüchtigten Columbiahauses, in dem die Nazis eines ihrer ersten Konzentrationslager eingerichtet hatten.

Sobek arbeitet längst beim Reichsrundfunk an der Masurenallee, nimmt aber immer noch die beschwerliche Fahrt an den Gesundbrunnen auf sich, wenn sein Klub knapp bei Personal ist, und das ist er eigentlich immer. An diesem 7. Januar gelingt Sobek sogar ein Tor, ein weiteres erzielt der von Borussia Neunkirchen ausgeliehene Erich Leibguth, aber der alle überragende Mann auf dem Platz ist der sechsfache Torschütze Bram Appel.

Eine Woche später soll er für Hertha gegen Potsdam 03 stürmen, aber das Spiel wird „auf Anordnung des Bereichsfachwartes für Fußball im Gau III“ erst auf 28. Januar verschoben, dann auf den 18. Februar und schließlich ganz abgesagt. Offiziell sind noch für den April Meisterschaftsspiele angesetzt. Erst als die Rote Armee in Marzahn die Berliner Stadtgrenze schon überschritten hat, wird die Saison nach 13 von 18 Spielen abgebrochen. Hertha BSC beendet die letzte Kriegsmeisterschaft auf Platz acht, 13 Punkte hinter Spitzenreiter BSV 92, vier Punkte vor dem Letzten Lufthansa/Viktoria.

Am 6. Mai, zwei Tage bevor Wilhelm Keitel in Karlshorst die deutsche Kapitulation unterzeichnet, geht die Haupttribüne des Herthaplatzes in Flammen auf. Bram Appel überlebt den Krieg und fährt mit der Eisenbahn zurück nach Rotterdam. 1948 debütiert er in der niederländischen Nationalmannschaft, für die er auch beim olympischen Fußballturnier 1948 in London aufläuft. Bram Appel bringt es auf zwölf Länderspiele, zweimal läuft er auch gegen die Bundesrepublik Deutschland auf.

Ein Wiedersehen mit Berlin ist nicht überliefert – wohl aber, dass er die Jahre als Zwangsarbeiter, so traumatisierend sie auch waren, durchaus differenziert betrachtet. In jenem Interview mit dem holländischen Fanzine, das er 1988, neun Jahre vor seinem Tod gegeben hat, sagt Bram Appel: „Bei Hertha habe ich mit Jungs gespielt, die richtige Freunde für mich wurden. Es waren alles junge Männer, die den Krieg genauso schrecklich fanden wie ich.“ Und: „Hertha war auch überhaupt kein Nazi-Klub.“

Dieser letzte Satz bleibt haften. Der Historiker Daniel Koerfer sagt: „Einen besseren Entlastungszeugen für die Zeit im Dritten Reich kann ein Verein sich kaum wünschen.“

Daniel Koerfer: „Hertha unter dem Hakenkreuz – ein Berliner Fußballclub im Dritten Reich“. Verlag Die Werkstatt, 288 Seiten, 19,90 Euro.

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