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© dpa

Gastgeberland: Fairness als Klassenziel

In Kanada ist die Gleichstellung von Behinderten selbstverständlich – nicht nur bei den Paralympics. Vor allem in den Schulen des Olympialandes wird viel Wert auf Inklusion gelegt.

Wer die Holy-Angels-Schule in Toronto betritt, merkt sofort, dass die Dinge hier anders laufen als an den meisten deutschen Schulen. Zum Beispiel in der dritten Klasse, die gerade Mathematikunterricht hat, als der deutsche Besucher vorbeischaut.

Vorne an der Tafel erklärt Lehrer Richard Sloan den Schülern die Grundbegriffe der Geometrie, im Klassenzimmer sitzen die Schüler in Gruppen aufgeteilt und arbeiten an einzelnen Aufgaben – abgestuft nach ihren jeweiligen Fähigkeiten: In einer Ecke sitzen die Schüler, die dem Lehrstoff ohne Probleme folgen können und lösen schwierigere Aufgaben. In einer anderen Ecke reiht sich eine Gruppe von lernschwachen Schülern um eine helfende Lehrerin, die etwas leichtere Aufgaben zum gleichen Thema erklärt – während in einer dritten Ecke Schüler mit körperlichen und geistigen Behinderungen sitzen, die für ihre Arbeit spezielle Computer und andere Hilfsgeräte benutzen und dabei ebenfalls von einer spezialisierten Aushilfslehrerin unterstützt werden.

So sieht der „inklusive Lehrplan“ in der Praxis aus, den die Schulbehörden in Toronto und quer durch Kanada praktizieren. An kanadischen Schulen ist Inklusion, das Miteinbeziehen von körperlich und geistig behinderten Mitschülern, Programm. „Kanada hat einen prinzipiell anderen Umgang mit Unterschieden als Deutschland“, hat Andreas Hinz, Professor für Rehabilitationspädagogik und Leiter der Bereiche Integrations- und Körperbehindertenpädagogik an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, beobachtet. Während es in der Bundesrepublik quer durch die Gesellschaft noch ein sehr hierarchisches und Behinderte ausgrenzendes Denken gebe, habe sich im Einwanderungsland Kanada, in dem Hinz vor einigen Jahren zwei Monate zum Thema forschte, seit langem ein eher gemeinschaftliches Selbstverständnis etabliert.

Lloyd McKell, der als Gleichberechtigungsbeauftragter der Schulbehörde von Toronto arbeitet, sagt: „Unser Ziel ist es, allen Schülern den größtmöglichen Erfolg zu verschaffen.“ Bis auf wenige Ausnahmen werden deswegen alle kanadischen Schüler gemeinsam an Regelschulen unterrichtet. Man sei sich durchaus bewusst, dass nicht jeder Schüler die gleichen Veraussetzungen hat, sagt McKell. Deswegen verfolgen er und seine Kollegen unter dem Stichwort „Equity“ – was auf Deutsch mit Gerechtigkeit oder Fairness übersetzt werden kann – das Ziel, jedem Kind die bestmögliche Bildung zu bieten, unabhängig von seinen Beschränkungen.

Das Ziel der Fairness ist in Kanada nicht nur auf den Umgang mit behinderten Menschen beschränkt. Zwischen Québec und Vancouver hat sich in den vergangenen Jahrzehnten eine sehr weitreichende Definition des Begriffes Inklusion durchgesetzt, der die Gleichberechtigung kulturell, sprachlich und sozial definierter Gruppen ebenso einschließt wie die Integration von Menschen mit Behinderungen.

In den Schulen merkt man dies besonders, weil es klar erkennbar eine stärkere Präsenz von offenbar stärker behinderten Schülern gibt. Anders als bislang in Deutschland wird zunehmend versucht, Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf so weit wie möglich in regulären Klassen mit zu unterrichten, jeweils unterstützt durch zusätzliches Personal. Nach Angaben der Schulverwaltungen von Ontario verbringen die meisten Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf mindestens 50 Prozent ihrer täglichen Unterrichtszeit in regulären Klassen, aus anderen Provinzen sind ähnliche Zahlen zu hören.

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In Kanada ist Inklusion ein Grundprinzip - wie hier an der Balwin-Grundschule in Edmonton. -

© Lars von Törne

In Kanada gibt es kaum Ausgrenzung

An jeder Regelschule gibt es dafür sonderpädagogisch geschulte Lehrer, die als Teil eines Betreuungsteams agieren, das ein innerschulisches Förderprogramm auf die unterschiedlichen Bedürfnisse zuschneidet. Dieses Programm reicht je nach Bedarf von einigen Stunden am Tag, die außerhalb des regulären Klassenzimmers angeboten werden, bis hin zu Kursen, in denen die Schüler für längere Zeit separat unterrichtet werden. Lisa Perez, die an der Richmond-Green- Schule in Toronto arbeitet, ist so eine Lehrerin. Gemeinsam mit Klassenlehrern, Rektor, Eltern und anderen Schulakteuren versucht sie, für jeden Schüler mit Behinderungen die richtige Mischung aus separater Beschulung und Integration in den regulären Unterricht zu finden. „Wenn eine Klasse einen oder zwei Schüler hat, die Förderbedarf in Mathematik haben, betreue ich die Schüler und vielleicht auch noch ein paar andere, die nicht mitkommen, entweder in der Mathematikstunde in einer Ecke und erkläre ihnen das vom Lehrer vorgetragene Material noch einmal, oder ich hole sie danach zu mir in mein Zimmer, damit wir die Stunde hier aufarbeiten“, erzählt Lisa Perez in ihrem Beratungszimmer. Und sie sucht nach Möglichkeiten, Kinder mit speziellen Anforderungen so gut wie möglich in den Schulalltag zu integrieren, auch außerhalb des Unterrichts. So gibt es an der Richmond-Green-Schule ein Projekt, in dessen Rahmen sonderpädagogisch betreute Schüler in den Pausen den Schulkiosk betreiben, an dem alle Schüler Süßigkeiten kaufen können.

In der Praxis wird dieser Anspruch allerdings nicht an jeder Schule gleich gut umgesetzt, kritisiert die von Eltern geführte Lobbygruppe „People for Education“. Sie beklagt, dass es nicht genug Förderlehrer gebe. Auch seien viele Klassenlehrer damit überfordert, ihre Schüler so differenziert zu unterrichten wie erforderlich.

Dennoch, und das attestiert auch die Eltern-Lobbygruppe: Das grundsätzliche Ziel der Inklusion ist in Kanada Konsens. Das spiegelt die allgemeine Einstellung im Olympialand wider: „In Kanada gibt es weniger Barrieren und Ausgrenzungen“, sagt Pädagogikprofessor Hinz. Gerade in Großstädten wie Toronto, aber auch in ländlicheren Regionen gebe es dafür viele Beispiele. Allerdings ändere sich langsam auch das Bewusstsein in Deutschland, findet Hinz. An den Schulen wie auch im Arbeitsleben, wo es zunehmend Modelle der „unterstützten Beschäftigung“ gibt, die nach nordamerikanischem Vorbild Menschen mit Behinderungen dabei helfen sollen, reguläre Arbeitsplätze zu bekommen.

Vor allem durch die im vergangenen Jahr verabschiedete UN-Behindertenrechtskonvention „gibt es einen Push, die segregativen Strukturen bei uns zu ändern“, diagnostiziert der Experte. Bis März 2011 muss die Bundesrepublik einen ersten Bericht zur Umsetzung der UN-Konvention vorlegen. Bis dahin, so hofft nicht nur Hinz, hat sich in der Bundesrepublik vielleicht schon einiges in der Richtung entwickelt, wie sie Länder wie Kanada vorgeben.

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