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Sport: Geburt einer Turniermannschaft

Die deutsche Elf reanimiert im Gruppenspiel gegen Polen die gefürchtetste aller Tugenden: Sie kann wieder in letzter Sekunde gewinnen

Als der Ball endlich im Tornetz zappelte, flipperte Jürgen Klinsmann durch die Coachingzone. Er hüpfte und er sprang, hin und her und immer wieder. Und er schrie vor Glück, der Bundestrainer. Seine Augen waren aufgerissen, seine Hände zu Fäusten geballt, die Adern an Schläfe und Unterarmen bedrohlich geschwollen. Alles an ihm, selbst die Knöpfe seines dünnen Oberhemdes, schienen unter Strom zu stehen. „Das sind Glücksmomente, die brüllt man raus“, sagte Klinsmann hinterher. Als er wieder halbwegs bei Besinnung und das Spiel aus war, umarmte er jeden einzelnen Spieler seiner Mannschaft. Die jubelte und freute sich auch, aber in der Disziplin ekstatischer Jubel war der Bundestrainer schon als Torjäger unerreicht.

Die Fakten sind nüchterner. Der zweite Sieg im zweiten WM-Spiel hat die deutsche Fußballnationalmannschaft ins Achtelfinale gebracht. Das ist für sich genommen allerhand, aber gemessen an dem selbst gesteckten Ziel erst ein zweiter Schritt von den erhofften sieben Schritten zum Titelgewinn. Vielmehr war es die Dramaturgie, die Art und Weise, wie es zu diesem 1:0-Sieg über Polen in der Nachspielzeit kam, die prägend sein könnte.

Die Spieler hatten sich auf eine vergleichsweise intime Ehrenrunde im Dortmunder WM-Stadion begeben. So nah kommen sich Zuschauer und Spieler nicht. Sie feierten, als ob das WM-Halbfinale erreicht wäre, mindestens das. Die Ausgelassenheit, mit der die Deutschen den Sieg zelebrierten, resultierte aus dem Charakter des Spiels. Es war ein intensives, ein dichtes Spiel. Es hatte die Intensität von Spielen in der K.-o.-Runde: Nur der Sieger bleibt dabei, egal wie, egal unter welchem Aufwand. Nur ein Sieg bringt einen weiter.

Für den weiteren Turnierverlauf könnte diese Dramaturgie von fundamentaler Bedeutung sein. Das Duell mit Polen könnte sich als die Geburtsstunde einer Turniermannschaft erweisen. „Wir wachsen mit jedem Spiel“, sagte Klinsmann. Für Michael Ballack hat die Mannschaft „in puncto Körpersprache und Ausstrahlung“ dazu gewonnen. Und so strahlt dieses Spiel nach innen und nach außen. Die potenzielle Gegnerschaft wüsste jetzt wieder, „die Deutschen sind bis zum Schluss gefährlich“, sagte Ballack. „Das gibt uns Selbstvertrauen.“

Immer deutlicher gelingt es der aktuellen Formation, jene Qualitäten zu reanimieren, die deutsche Mannschaften bei Turnieren auszeichneten: Teamgeist und die Fähigkeit, sich von Spiel zu Spiel zu steigern . Tritt beides in Kombination mit der am meisten gefürchteten Tugend auf, wonach die Deutschen erst dann geschlagen sind, wenn sie mit dem Mannschaftsbus aus der Stadt fahren, sieht es für die Konkurrenz nicht gut aus.

„Diese Mannschaft braucht solche Spiele und Siege“, sagte Klinsmann. Und er braucht sie für die Glaubwürdigkeit seiner Philosophie. Sie basiert darauf. Nur über Siege funktioniert sein Plan: Wir machen uns bis an die Grenze fit, fühlen uns dann stark und mit jedem positiven Erlebnis werden wir tatsächlich stärker.

Bislang basierte die Stärke darauf, „dass wir an uns glauben“, wie es Torsten Frings sagte. Das tat die Mannschaft gegen Polen teils unterhaltsame, teils nervenaufreibende 90 Minuten lang. Die Mannschaft glaubte an sich. „Wir hätten gern früher ein Tor gehabt“, sagte Klinsmann, aber seine Mannschaft sei „dran geblieben, weil wir ein Tor erzwingen wollten“. Selbst nach den beiden Lattentreffern kurz vor Schluss sei der Bundestrainer sich sicher gewesen, „da kommt noch was“. Dass ausgerechnet zwei Ersatzspieler, Flankengeber David Odonkor und Vollstrecker Oliver Neuville, für das Siegtor verantwortlich waren, passt in diesen Prozess und in Klinsmanns täglich gelebte Überzeugung: Jeder in der Gruppe ist gut, jedem schenken wir Vertrauen, jeder ist wichtig. „Das ist eine Kopfsache“, sagte der Bundestrainer, „der Schlüssel liegt in der Einstellung und in der Gruppe.“

Mit den Deutschen ist bei dieser, bei ihrer Weltmeisterschaft zu rechnen. Die deutsche Nationalmannschaft hat Stürmer, die treffen, sie ist gefährlich bei Standards (beides gegen Costa Rica zu sehen), und sie ist auch noch in allerletzter Sekunde zu einem „Finalschlag“, wie Mertesacker sagte, fähig. „Solche Erlebnisse helfen, noch besser zusammenzufinden und zu wachsen“, sagte der Hannoveraner. Der Glaube an die eigene Stärke ist wieder ein Stück gestiegen. Und mit jedem Sieg wird der Glauben mehr zur Gewissheit.

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