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Sport: Gegner am Boden, jutet Jefühl

Graciano Rocchigiani erstreitet 31 Millionen Dollar vom Boxverband WBC

Von Frank Bachner

Berlin. Der Rocchigiani fiel erstmal nicht. Es sollte ja nicht herauskommen, wer da Möbel verkaufen wollte. Also rief eine Bekannte von Rocchigiani „im Auftrag“ vor ungefähr zwei Jahren bei einem Berliner Anzeigenblatt an und gab ein Inserat auf: „Mobiliar zu verkaufen.“ Aber dann musste sie eine Bankverbindung des Auftraggebers samt Name angeben, und dabei kam dann heraus, wer da verkaufen wollte. Der Profiboxer Rocchigiani. In Insiderkreisen der Boxszene hieß es sofort: Graciano Rocchigiani hat kaum Geld, er muss seine Möbel verkaufen. Ob er wirklich pleite war, weiß natürlich niemand mit Sicherheit. Seit Freitag aber ist klar, dass Rocchigiani wohl erst einmal keine Geldsorgen mehr haben wird. Der 38-Jährige wird Multimillionär. Zumindest auf dem Papier. Ein New Yorker Gericht beziehungsweise mehrere Geschworene sprachen dem Ex-Profiboxer 31 Millionen Dollar zu. Der 38-Jährige gewann damit seinen Prozess gegen den Welt-Boxverband WBC, der den Halbschwergewichtler um seinen WM-Gürtel und damit um lukrative Kämpfe betrogen hatte (siehe nebenstehenden Kasten).

Und alle schreien jetzt: Sensation, unglaublich. Warum eigentlich? Rocchigiani war im Recht, er hatte genügend Beweise, er hat gewonnen, weil der WBC betrog. Und die Millionen? In den USA Alltag bei Schadensersatz. Es ist ein gerechtes Urteil, erst mal nicht mehr. Aber hinter der Fassade aus Paragraphen und Beweisen ist es natürlich doch mehr. Weil nicht der Richter, der Jurist, urteilte, sondern Geschworene entschieden. Angestellte, Ärzte, Busfahrer, solche Leute. Leute mit Gefühlen und Vorurteilen. Leute, die nicht bloß an Paragraphen und Beweise denken, wenn sie einem 31 Millionen Dollar zuschanzen.

Aber Rocchigiani gaben sie das Geld. 31 Millionen, mehr als seine Anwälte forderten. Das ist doch eine Überraschung. Denn Rocchigiani ist kein armes Opfer, das Mitleid erregt und dem man jeden Penny gönnt, weil es schiere Not personifiziert. Rocchigiani sitzt in Deutschland im Gefängnis, er hatte Hafturlaub in New York, er ist ein bad guy. Die WBC-Anwälte haben ja Rocchigianis Strafregister rauf- und runtergebetet.

Und trotzdem ist Rocchigiani jetzt Sieger. Und eigentlich hat diese Geschichte nun etwas von einem modernen Märchen. Denn Graciano Rocchigiani hat jetzt die Anerkennung dort, wo sie ihm wichtig ist. Es ist ein Sieg der Gerechtigkeit, Willkür wurde bestraft. Auf eine verquere Weise ist Rocchigiani beseelt vom Wunsch nach Gerechtigkeit. Das klingt natürlich kurios bei einem, der gerade im Gefängnis Tegel sitzt, weil er mehrfach gegen Bewährungsauflagen verstoßen hat. Er schlug 1996 in Wien einen Hausmeister, beleidigte Polizisten („Advokatenscheißer“), fuhr mit zwei Promille im Blut ein Auto in einen Straßengraben, geriet, 1988, in eine Schlägerei vor einer Diskothek, in deren Verlauf sieben Polizisten zu Boden gingen, und beendete angeblich die Kritik seines Fahrlehrers mit einer trockenen, rechten Geraden. In Kürze steht sein nächster Prozess an, Körperverletzung.

Aber das ist der Mensch Rocchigiani. Der Sportler Rocchigiani, der Profiboxer Rocchigiani, denkt anders. Boxen ist seine Welt, in der er immer Halt fühlte, in der er glaubte, die Regeln zu beherrschen, die er außerhalb des Ringgevierts nicht in den Griff bekam oder schlicht ignorierte. Aber in seiner eigenen Welt, so dachte Rocchigiani, gab es eine denkbar einfache, unumstößliche Gerechtigkeit. Denn Boxen ist das Duell Mann gegen Mann, einer fällt um oder ist geschlagen, das archaische Prinzip. Punkt. „Boxer am Boden, jutet Jefühl“, hat Rocchigiani mal gesagt. Es war seine schlichte Philosophie.

Aber ausgerechnet in dieser Welt fühlte er sich zu oft als Betrogener. Und je mehr er bemerkte, dass er nur der Spielball von Promotern, Managern und TV-Anstalten wurde, je geringer die Bedeutung der echten Leistung im Ring wurde, umso so stärker prägte sich sein Wunsch nach Gerechtigkeit aus.

Als er Henry Maske, den Liebling der Massen, im Mai 1995 am Boden hatte und der benebelte Maske sich nur mit Mühe wieder aufrappelte, wer wurde zum Sieger ausgerufen: der RTL-Star aus Frankfurt (Oder). Und als der Pole Dariusz Michalczewski im August 1996 nach dem Gong angeblich wegen eines Nachschlags theatralisch zu Boden ging, wurde Rocchigiani disqualifiziert. Noch Jahre später war der Berliner blind vor Rachegefühlen.

Rocchigiani hatte ein gutes Gespür dafür, dass er zur Ware degradiert wurde, als das Fernsehen Boxen zum Gesellschaftsereignis aufbaute. Er wurde als Gegenpart zum Helden Maske gebraucht. Rocchigiani war ideal dafür. Und selbstverständlich kassierte er kräftig ab. Er profitierte von den Fernsehmachern wie die von ihm. Aber er war nie so geschmeidig wie Maske.

Und natürlich lieferte Rocchigiani Eskapaden, die seinen jeweiligen Manager, Klaus- Peter Kohl oder Wilfried Sauerland, zur Weißglut trieben. Er ließ Pressekonferenzen und Kämpfe platzen und war unberechenbar. Aber als er spürte, dass sie ihn alle brauchten, gerade oder trotz dieser Eskapaden, da verstärkte sich noch seine Abscheu gegen das ganze Business. Die Sekt- und Kaviar-Schickeria am Ring hatte nichts mit seinen Vorstellungen vom Profiboxen zu tun.

Und vermutlich bereitet es ihm extrem Vergnügen, dass er in dieser Woche zwar wieder ins Gefängnis muss, aber nun trotzdem um ein Vielfaches reicher sein wird als die Leute in ihren feinen Kleidern, denen er am Ring verkauft wurde wie ein wildes Tier. Sie waren in seine Welt eingedrungen, und in seiner Welt hatte er nun gesiegt. Auf dem Papier. Noch ist unklar, ob er die ganzen Millionen erhält. Die WBC kann angeblich nicht zahlen und will Revision. Ein garantiertes Happy End haben eben doch nur Märchen.

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