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Sport: Generation der Masochisten

Das junge deutsche Zehnkampfteam beeindruckt mit seinem Willen zur Qual

Berlin - Andre Niklaus umklammert seinen rechten Knöchel, das Problem aber liegt tiefer. Sein Zehengrundgelenk schmerzt seit Wochen, deshalb kommt Niklaus gerade von einer Behandlung im Olympiastützpunkt Berlin, deshalb hat er den Zehnkampf zuletzt in Götzis nur im Internet verfolgen können. Am Ende musste der Zehnkämpfer Niklaus tief durchatmen, seine Kollegen hatten mächtig aufgedreht: Michael Schrader, Bayer Uerdingen, sensationeller Sieger mit 8522 Punkten, Pascal Behrenbruch, Eintracht Frankfurt, 8374, Norman Müller, Hallesche Leichtathletikfreunde, 8272 Punkte. Niklaus sitzt da und weiß nicht so recht, wie er diese Resultate einordnen soll. Seine Bestleistung steht bei 8371 Punkten.

„Was die Jungs abgezogen haben, war schon toll“, sagt der 27-Jährige. Alle haben persönliche Bestleistungen erzielt. Aber diese Jungs greifen auch seine Stellung an. Andre Niklaus von der LG Nike hat mehrere Jahre lang den deutschen Zehnkampf beherrscht. Er war 2006 Hallenweltmeister und 2007 WM-Fünfter, jetzt sagt er fast trotzig: „Ich war immer die Nummer eins, ich würde mich jetzt nicht zurückstellen.“ Die anderen haben seine Augenhöhe erreicht, so sieht er das. Außerdem ist der Fuß wieder ganz okay, in zwei Wochen beim Mehrkampf-Meeting in Ratingen, wo es um die WM-Qualifikation geht, wird er dabei sein. Sein Minimalziel ist ehrgeizig: 8300 Punkte.

Genau das will Claus Marek hören. Sie sollen sich gegenseitig puschen, seine Jungs. Marek ist ihr Bundestrainer. Er versteht sich als strenges, aber fürsorgliches Oberhaupt einer Sportlerfamilie. Sie sind alle im „Team Zehnkampf“ organisiert, das klingt nach Teamgeist, und soll es auch. Und jetzt hat er wieder genügend Athleten, um diesen Teamgeist leben können. Junge, hungrige Zehnkämpfer. Behrenbruch ist 24, Müller 23, Arthur Abele aus Ulm, Bestleistung 8372 Punkte, in Götzis nicht dabei, ist 22. Niklaus ist mit 27 Jahren der Älteste.

„Mit dieser Generation haben wir Glück gehabt“, sagt Marek. Natürlich sichten sie die Talente in der Jugend, natürlich werden sie langsam zugeführt, aber ein echter Zehnkämpfer wird man im Kopf. Andere versinken als ewige Talente im Mittelmaß. Ein echter Zehnkämpfer geht an seine Schmerzgrenze, er bekämpft mit Willenskraft die Qualen. Diese Generation macht das, sagt Marek. „Vielleicht ist die frühere Generation nicht an ihre Grenzen gegangen“, sagt auch Niklaus.

Arthur Abele ist im Moment wohl das größte Symbol für diese Leidensfähigkeit. Wenn er ihn sieht, denkt Marek an Kurt Bendlin, den früheren Zehnkampf-Weltrekordler. „Der war ein echter Masochist. Der konnte seinem Körper alles abverlangen“, sagt Marek. „Abele kann das auch.“ Das ist auch sein größtes Risiko. Denn Abeles Willenstärke ist so groß, dass er seinen Körper überfordert. Der Preis sind Verletzungen. „Er muss körperlich optimal vorbereitet sein“, sagt Marek. Sonst geht es schief. „Bei ihm ist das immer eine Gratwanderung.“

Norman Müller aus Halle ist im Sommer bei einem Zehnkampf in Kansas, USA, gestartet. Brütende Hitze lag über dem Stadion, die Luft war auf 45 Grad aufgeheizt. Dann kam die letzte, brutalste Disziplin im Zehnkampf, der 1500-Meter-Lauf. Die letzte Herausforderung, die fast jeder Zehnkämpfer fürchtet. Aber Müller lief in der drückenden Schwüle 4:24 Minuten, eine exzellente Zeit. Das meint Marek mit Leidensfähigkeit.

Auch Schrader ist so ein hungriger Aufsteiger. Seinen ersten 8000-Punkte-Wettkampf hat er im Mai 2008 absolviert. „Er redet nicht groß, was er machen kann, er macht einfach“, sagt Marek. Und Schrader kann noch viel mehr. In Götzis hat er den Diskus 43,09 Meter weit geschleudert. „Aber er könnte 46 oder 47 Meter werfen“, sagt der Bundestrainer.

Das größte Talent von allen aber ist Behrenbruch. Er ist auch Mareks größter Problemfall. Der Mann von der LG Frankfurt hat von den Spitzenleuten noch am wenigsten die Rolle des Zehnkämpfers verinnerlicht. Negative Kritik zieht ihn runter, Partys genießt er, professionelles Handeln betrachtet er oft als unverbindliche Empfehlung. Marek hatte ihm vor Jahren gesagt: „Du hast die stärkste Physis und das größte Talent von allen. Aber in ein paar Jahren werden dich Leute in Grund und Boden rennen, die du noch gar nicht kennst.“

Im Training ist er schon 20 Mal hintereinander mit jeweils 90 Sekunden Pause 1,90 Meter hoch gesprungen. In Götzis blieb er bei 1,88 Meter hängen. „Das kann mir doch keiner erzählen, dass er nicht mehr anbieten kann“, sagt Marek. Behrenbruch läuft die 100 Meter in 10,88 Sekunden, aber weil er in Götzis im Weitsprung nicht wie üblich aus dem Stand, sondern nach Trippelschritten anlief, landete er nur bei 7,07 Metern. Andererseits zerriss er sich das Trikot, nachdem er den Speer exzellente 70,24 Meter geworfen hatte. „Er hat das Potenzial für 54 Meter im Diskus“, sagt Marek. In Götzis landete die Scheibe bei 48,86 Meter. „Wir haben überall Reserven“, sagt Marek. Beim Hochsprung zum Beispiel. „Wir verlieren pro Nase zehn Zentimeter, weil nicht alle die Methoden von Rainer Pottel übernehmen.“ Pottel ist der Trainer von Niklaus. Seine Methode? „Als Mehrkämpfer hat man ein eher grobes Bild von einer Disziplin, in diesem Fall vom Hochsprung“, sagt Niklaus. „Pottel schafft es, dass er einem die Feinheiten nahebringt.“ Aber mit Mareks Anspruch kann er eher wenig anfangen. „Es ist schwierig, ein System auf jeden anzuwenden, jeder braucht seine eigene Methoden.“

Deshalb sieht Niklaus eine andere Idee Mareks distanziert. Der Bundestrainer will den 1500-Meter-Lauf zur deutschen Trumpfkarte entwickeln. Die Deutschen sollen 4:15 Minuten laufen, wenn möglich 4:10 Minuten. Früher, als er selbst noch Zehnkämpfer war, „habe ich mich geschämt, wenn ich 4:24 Minuten gelaufen bin“, sagt Marek. Nun sollen die anderen Angst bekommen vor den Deutschen. „Die sollen wissen, es reicht nicht, in neun Disziplinen gut zu sein“, sagt der Bundestrainer.

Abele und Niklaus sind gute 1500-Meter-Läufer, aber die beste Zeit, die Niklaus in einem Zehnkampf erreicht hatte, war 4:23,86 Minuten. „Wer 4:10 erreicht, ist ein verkappter Läufer“, sagt Niklaus. „Der stößt dafür die Kugel nur 13 Meter weit.“ Für ihn ist das eine Frage der Relationen. „Wenn ich 4:15 erreichen will, muss ich mehr Läufe im Training machen, am Tag danach kann ich aber dann keine Technikeinheit machen, weil die Kraft fehlt.“ Lohnt sich das?

Aber Marek setzt auch auf Teamgeist und Ehrgeiz. Nachdem Schrader vor längerer Zeit mal 4:24 Minuten gelaufen war, redete er auf ihn ein wie ein Fernsehprediger: „Wenn ihr bei einer WM nach neun Disziplinen mit drei Mann unter den besten zehn seid, kommt ihr am Abend in die Tagesschau. Da sehen dann Millionen Leute zu und beobachten, wie ihr alles in Grund und Boden rennt.“ Das mit der Tagesschau war natürlich gelogen, aber es ging um Motivation. Für Niklaus war Götzis genügend Motivation. Die Jungen kommen? Sollen sie doch. „Wenn ich Ausreißer nach oben habe“, sagt er, „kann ich 8700 Punkte erreichen.“

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