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Sport: Gewonnen vor dem ersten Sprung

Noch vor einem Jahr kämpfte Mikkeline Kierkgaard um ihr Leben – nun steht sie in Berlin auf dem Eis

Berlin. Natürlich war Mikkeline Kierkgaard vorher beim Arzt. Dem Arzt hat sie gesagt, dass sie wieder klar sehen kann. Der Arzt hat dann auch ihr Herz untersucht und gesagt, dass alles in Ordnung ist. „Sie können bedenkenlos starten.“ Bei den Deutschen Eiskunstlaufmeisterschaften in Berlin (Erika- Hess-Stadion, heute ab 11.30 Uhr), hatte er damit gemeint.

Mikkeline Kierkgaard hatte früher mal für ein paar Minuten gar nichts mehr gesehen und eine Zeit lang dann alles nur verschwommen. Damals hatte sie schon gedacht, dass es nicht schlimmer kommen könnte. Sie wusste es nicht besser. Sie wusste damals noch nicht, dass sie 2003 froh sein würde, überhaupt noch zu leben. Eine 18-Jährige dachte nicht an Lebensgefahr. Sie war im Mai 2002 von Dänemark nach Berlin kam, weil sie vom dänischen Verband nicht für die Olympischen Spiele nominiert worden war. Sie war Einzelläuferin, aber in Berlin schulte sie auf den Paarlauf um. Und Norman Jeschke sagt: „Seit Mikkeline alles überstanden hat, bin ich als Mensch positiver geworden.“ Jeschke ist seit Mai 2002 ihr Partner. Er hat das Drama miterlebt. Und zeitweise war er so weit, vieles aufzugeben; den Sport, die Hoffnungen, die Wettkampf-Ziele.

Alles begann mit einem Unfall, am 25. Oktober 2002. Ein Lehrgang im Sportforum Berlin-Hohenschönhausen, viele Paare auf dem Eis, darunter auch Kierkgaard und Jeschke. Kierkgaard lief rückwärts, ein anderer Läufer auch, Rücken an Rücken prallten sie zusammen, die Dänin knallte auf Eis, Blut floss aus ihren Kopf. Ohnmächtig lag sie da, ein Krankenwagen transportierte sie ab, die Ärzte diagnostizierten eine Gehirnerschütterung und stellten ein Blutgerinnsel im Gehirn fest. Und Mikkeline Kierkgaard sagte ein paar Minuten lang: „Ich kann nichts mehr sehen.“ Norman Jeschke stand hilflos dabei. Er hatte auch mal eine Gehirnerschütterung, „da war nach zwei Wochen wieder alles in Ordnung“. Beide dachten, bei Kierkgaard würde es auch nicht länger dauern. Sie waren doch das hoffnungsvolle Paar, sie sollten die Qualitätslücke im Paarlauf schließen, sobald die Dänin für Deutschland starten durfte. Es war die Zeit, als Jeschke noch genauso viel an den Sport wie an die Gesundheit seiner Partnerin dachte. Er meinte das nicht böse, er stand nur unter Druck. Aber Kierkgaard fiel nicht bloß zwei Wochen aus. Sie musste fast zwei Monate pausieren. Sie sah alles nur verschwommen, sie hatte Kopfschmerzen. Im Januar begann sie dann wieder mit dem Training.

Sechs Wochen später wurde sie wieder ohnmächtig. Und diesmal war alles dramatischer. Im Sportinternat, wo sie wohnte, brach sie auf der Toilette zusammen. Im Krankenhaus erhielt sie Infusionen – und wurde wieder nach Hause geschickt. Eine Frau, die nicht gehen konnte, die gestützt werden musste. „Unglaublich“, sagt Jeschke. Im Fahrstuhl auf dem Weg zu Jeschkes Eltern brach sie wieder ohnmächtig zusammen. Jeschkes Mutter erlitt einen Schock. Ein Sportarzt ließ sie erneut ins Krankenhaus bringen, verbunden mit der eindringlichen Aufforderung an die Ärzte, Kierkgaards Herz intensiv zu untersuchen. Diese Anweisung, sagt die Dänin, habe ihr das Leben gerettet. Denn ein Infekt hatte sich in ihrem Herz festgesetzt, für Topsportler ein lebensgefährliches Risiko. Unter starker Belastung kann das Herz versagen. Der Stuttgarter Eiskunstläufer Heiko Fischer starb wahrscheinlich aus diesem Grund.

Im Krankenhaus sagte ihr Trainer Knut Schubert barsch zu den Ärzten: „Wir bestehen auf einer Herzuntersuchung.“ Dann wurde der Infekt entdeckt. Drei Monate lang musste Mikkeline Kierkgaard pausieren. Und Jeschke wagte es nicht, seiner Partnerin zu sagen, dass sie möglicherweise den Sport beenden müsste. Er dachte ebenfalls ans Aufhören, an ein Studium. Dann hätte er bei der Bundeswehr halt aufhören müssen.

Aber Kierkgaard erholte sich. „Sie haben einen starken Körper“, sagten die Ärzte eines Tages, „sie können weitermachen.“ Genau an diesem Tag, sagt Norman Jeschke, habe ihm ein Spitzenfunktionär der Deutschen Eislauf-Union (DEU) gesagt: „Weitermachen? Lohnt sich das denn?“ Bei Kierkgaard und Jeschke kam der Satz an wie ein Fausthieb. „Man kommt sich als Mensch missachtet vor.“ Stattdessen teilte die DEU mit, welche Elemente sie bis zur Meisterschaft 2004 beherrschen müssten. Jeschke und Kierkgaard mussten im Herbst 2003 auch bei der Nebelhorn-Trophy in Oberstdorf laufen. „Wir benötigten einen Leistungsnachweis, es ging ja auch um meinen Platz bei der Sportfördergruppe“, sagt Jeschke. Sie wurden Sechste.

Aber sie stehen sportlich weiter unter Druck. „Deshalb sind die Meisterschaften auch für uns so wichtig“, sagt Jeschke. Andererseits nicht so wichtig wie das bloße Erleben des Alltags. Mikkeline Kierkgaard sagt: „Mir macht jeder Tag jetzt richtig Spaß.“

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