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Sport: Großes Theater

Es war mehr als ein Basketballspiel. Nämlich erstklassiges Theater.

Es war mehr als ein Basketballspiel. Nämlich erstklassiges Theater. Mit Schurken, Helden und überaus engagierten Zuschauern. "Hey, Krause!", stand in großen Buchstaben auf einem Plakat, das ein Fan der Washington Wizards dem Manager der Chicago Bulls unter die Nase hielt: "Mit MJ: sechs Ringe. Ohne MJ: 51:193." Ausformuliert bedeutet die Botschaft, dass die einst ruhmreichen Bulls unter der Regie von Michael Jordan sechs NBA-Titel gewannen, um nach dessen Rücktritt 1998 zum schlechtesten Team der Liga zu mutieren. Allerdings sind die Zahlen bereits überholt. Seit Freitag stehen in der Post-Jordan-Ära den nur 51 Siegen 194 Niederlagen gegenüber. Eben wegen jenes Jordans, der erstmals im blauweißen Trikot der Wizards gegen sein ehemaliges Team antrat und das Prestigeduell mit 89:83 gewann. Die Ironie des Schicksals: ausgerechnet gegen die Bulls erreichte die Basketball-Lichtgestalt einen weiteren Meilenstein in der einzigartigen Karriere.

Der jüngste Eintrag ins Geschichtsbuch verlief allerdings recht unspektakulär. Nach einem Foul von Ron Artest stand Jordan im zweiten Viertel an der Freiwurflinie. Er hob seinen rechten Arm, knickte das Handgelenk und traf. Dafür gibt es nur einen Punkt, doch da es der 29 999 seiner Laufbahn war, zückte nahezu jeder der 24 000 Fans im MCI-Center vor dem zweiten Wurf des Superstars seinen Fotoapparat. Jordan tippte in gewohnter Rotinie den Ball auf, ging leicht in die Knie, um danach parallel zur Wurfbewegung auf die Zehenspitzen zu schnellen. Der Ball flog in hohem Bogen unter einem Blitzlichtgewitter zum Korb. Treffer. Der 30 000 Punkt. Michael Jordan lächelte. Die Zuschauer klatschten. Und Ron Artest tobte. Der Bulls-Spieler haute mit der Faust mehrmals auf den Scorertisch und ärgerte sich darüber, der befreundeten Legende "diese Gelegenheit durch ein dummes Foul gegeben zu haben". Nun muss man wissen, dass Artest seinem Idol während eines Trainingsspiels im Sommer zwei Rippen gebrochen und dessen Comeback gefährdet hatte. Zwar ohne Absicht, doch die Retourkutsche unter ehrgeizigen Kollegen war programmiert.

30 000 Punkte in der NBA (National Basketball Association). Damit ist Jordan erst das vierte Mitglied in einem besonders elitären Basketball-Klub, dem ferner Kareem Abdul-Jabbar (38 387 Punkte), Karl Malone (33 654) und Wilt Chamberlain (31 419) angehören. Kein Wunder, dass die Fans den Anführer der Wizards mit einer halbminütigen standing ovationen feierten und "Glückwunsch, Michael"-Banner ausrollten. "30 000 Punkte sind wirklich eine Menge", sagte Jordan mit einem Augenzwinkern. Doch die gute Laune des wohl besten Basketballers aller Zeiten hatte noch einen weiteren Grund: "Jedesmal wenn man seinen ehemaligen Klub schlagen kann, ist das ein großes Plus."

Jordan ging es darum, einen Schlußstrich unter die Vergangenheit zu ziehen und den Klassenunterschied zwischen den noch vor kurzen belächelten Wizards und den Bulls deutlich zu machen. "Ich möchte nicht, dass mein Team mit den Bulls verglichen wird", sagte Jordan, der trotz einer Stirnhöhlenentzündung 29 Punkte zum Sieg beisteuerte. Mit jedem Punkt wollte er auch den in der achten Stuhlreihe sitzenden Manager Jerry Krause treffen, dem er das Ende der Dynastie in Chicago anlastet. "Ich bin sicher, dass wir noch ein, zwei Titel mit den Bulls gewonnen hätten", betonte Jordan, der noch vor wenigen Monaten darüber klagte, dass ihm "nie ein Job im Management der Bulls" angeboten worden sei.

Vergangenheit. Spätestens seit Freitag ist die Trennung deutlicher als jemals zuvor. Jordan ist ein Wizard auf einer besonderen Mission. "Michael gegen den Rest der Welt", nannte die "Los Angeles Times" die Operation Sehnsucht des Stars, die Zeit zurückzudrehen. Zuerst spotteten die Kritiker und tauften "Air Jordan" in "Floor Jordan" um, weil der weltweit bekannteste Athlet an Sprungvermögen und Schnelligkeit eingebüßt hat. Fans überhäuften ihn mit Mitleid, nachdem die Wizards mit zehn Niederlagen und nur drei Siegen in die Saison gestartet waren. Doch nachdem der Superstar den sogenannten Jordanaires Ende November nach dem peinlichen 75:94 bei den Cleveland Cavaliers die Leviten las ("Wir sind sauschlecht, mir fehlt jegliche Unterstützung"), hat sich das Blatt gewendet.

Die Washington Wizards feierten zuletzt neun Siege in Folge, weil sie die Botschaft ihres Lehrmeisters endlich begriffen haben. "Wir sind cleverer und kämpfen mehr. Die Kids gefallen mir", lobte Jordan, dessen Leistungskurve bisher dem Profil einer Achterbahn gleicht. Nach einem Karrieretief von nur sechs Punkten am 27. Dezember in Indiana antwortete er sofort mit 51 Punkten (gegen Charlotte) und 45 Punkten (gegen New Jersey). Mit einem Punktedurchschnitt von 24,6 ist Jordan unter den Top Ten der Scorerwertung, auch wenn seine Trefferquote noch verbesserungsfähig ist. "Ich wußte, dass ich es noch kann. Ohne die Verletzung im Sommer hätte ich mein normales Niveau eher erreicht", meinte Jordan, dessen Magie die jungen Spieler augenscheinlich beflügelt. Mit einer Bilanz von 17 Siegen (mehr als in der gesamten vergangenen Saison) und 14 Niederlagen gehört Washington plötzlich zu den besseren Teams der Eastern Conference und ist auf Play-off-Kurs. "Michael überrascht mich trotz seiner 38 Jahre immer wieder", sagte Trainer Doug Collins, "wir sind auf dem richtigen Weg."

Stefan Liwocha

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