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Sport: „Günter, du schaffst dir nur Feinde“

Wolfgang Overath über Netzers starke Fernsehauftritte, die gemeinsame WM 1974 und die Chancen der deutschen Elf 2006

Herr Overath, wissen Sie noch, wie sich der Weltmeisterpokal anfühlt?

Das ist schon zu lange her. Der Gegenstand selbst war für mich auch nicht so entscheidend – ob ich da dieses goldene Ding oder irgendetwas anderes in die Hand bekomme, ist eigentlich egal. Der Moment ist einfach schön. Man kann Fußballer des Jahres in der Welt werden oder weiß ich was, der WM-Titel ist das Allergrößte. Zumal bei meiner Vorgeschichte.

Was meinen Sie?

Kurz vor der WM hatte ich in der Bundesliga eine so schlechte Zeit, dass ich schon überlegt habe: Mensch, was willst du da noch, du warst doch schon zweimal dabei.

Sie wollten freiwillig auf die WM verzichten und hätten Günter Netzer Ihren Platz im Mittelfeld überlassen?

Viele Journalisten waren sich ohnehin sicher: Diesmal spielt der Netzer. Der Günter hatte zwei Jahre zuvor, als ich verletzt war, eine sehr gute EM gespielt, er war zu Real Madrid gewechselt, und ich war richtig schlecht. Ich hatte kein Selbstvertrauen. Ich weiß noch, dass wir in dieser Zeit mit dem 1. FC Köln in der Bundesliga 1:4 gegen die Bayern verloren haben. Ich war wirklich schlimm dran. Aber dann hatten wir kurz vor der WM ein Testspiel, ich habe riesig gespielt, und plötzlich war das Selbstvertrauen wieder da. Fußball ohne Selbstvertrauen geht nicht.

Sind Sie mit Ihren Selbstzweifeln auch zu Helmut Schön, dem Bundestrainer, gegangen?

Nein. Das habe ich alles mit mir selbst ausgemacht. Es hat mich schon beschäftigt: Dir gelingt nichts mehr, du traust dir nichts mehr zu. Dabei hatte ich schon über 70 Länderspiele bestritten, das heißt ja was. Da denken eigentlich alle: Der ist stark. Aber das war keine einfache Zeit.

Besitzen Sie noch Andenken von der WM 1974?

Ich bin kein Mensch, der sammelt. Der Wolfgang Weber hat hier im Geißbockheim in Köln gerade eine WM-Ausstellung organisiert, hat mich gefragt, ob ich ein Trikot oder Schuhe hätte? Ich habe leider nichts. Nur eine kleine Nachbildung des Pokals, die wir vom DFB bekommen haben. Die steht irgendwo im Schreibtisch meines Arbeitszimmer, also zu Hause und nicht in meinem Büro, wo vielleicht noch Fremde kommen.

Schämen Sie sich, Weltmeister geworden zu sein?

Nein, ganz im Gegenteil, ich bin besonders stolz auf den Titel, aber alles Gegenständliche daran war mir nie so wichtig.

Was ist, wenn im Fernsehen die Bilder von ’74 laufen, schalten Sie dann ab?

Das war eine wunderbare Zeit, aber ich bin keiner, der sich das noch mal anschauen muss. Ich habe noch nie ein ganzes Spiel von mir gesehen.

Vom Finale heißt es, dass die Holländer damals besser waren. Jetzt ist eine Untersuchung der Universität Utrecht zu dem Schluss gekommen, die Deutschen waren die Besseren. Wie ist Ihre Erinnerung?

Also bitte, keine Doktorarbeit über ein Fußballspiel. Das Finale war ziemlich ausgeglichen. Die Holländer hatten eine superstarke Mannschaft, sie waren uns ebenbürtig, aber wir hatten in der zweiten Halbzeit genügend Chancen. Meine Erinnerung ist, dass wir nicht so überragend waren, aber es ist auch nicht so, wie damals geschrieben wurde, es wäre eine Abwehrschlacht gewesen.

Die Deutschen hatten ja auch ein paar ordentliche Fußballer in ihren Reihen …

… ich weiß nicht, was Sie unter ordentlichen Fußballern verstehen. Ich glaube, das ist eine Gesamttendenz im Fußball. Früher hat es in jeder Mannschaft drei, vielleicht vier gegeben, die körperlich sehr viel mitgebracht haben. Bei uns waren das der Berti Vogts, der Schorsch Schwarzenbeck und der Rainer Bonhof. Die waren nicht die Supertechniker, aber solche Spieler brauchte eine Mannschaft. Und dazu kamen viele Spieler, die mit dem Ball ganz gut umgehen konnten. Mittlerweile hat sich das gedreht. Ich glaube, es gibt heute in jeder Mannschaft zwei, drei überragende Fußballer, der Rest ist meistens Kraft und Athletik. Das ist nichts Negatives, der Fußball hat sich einfach dahin entwickelt. Ob das der Schönheit des Fußballs gut tut, ist eine andere Sache. Heute spielen im Prinzip zehn Athleten.

Zehn Athleten, das hört sich so an, als ob sich die Deutschen keine großen Sorgen machen müssten.

Die anderen Nationen haben auch nicht mehr die großen Figuren wie früher. Ich denke da nur an die Italiener mit Riva, Rivera, Mazzola, Boninsegna und andere. Heute fallen dir bei denen auch nur noch zwei ein. Wir sind von der Klasse her nicht in der Lage, mit den besten drei, vier oder fünf Mannschaften der Welt mitzuhalten. Aber wir spielen zu Hause, haben das fantastische Publikum hinter uns. Wir können uns etwas zutrauen. Wir sind in der Lage, die Brasilianer an einem Tag zu schlagen. Wir sind nicht in der Lage, die dreimal hintereinander zu schlagen. Da fehlt uns die Klasse. Aber einmal – ja. Und wir sind in der Lage, drei Tage später auch die Italiener zu schlagen, die wir ebenfalls nicht dreimal hintereinander schlagen können. Ich glaube, wir sind in der Lage, unter die letzten vier zu kommen.

Wie haben Sie 1974 die Erwartungen erlebt?

Bei uns waren sie natürlich viel größer, wir gehörten zu den Topfavoriten. Heute ist vieles Wunschdenken, 1974 hat man nicht weniger von uns verlangt als den Titel.

Deutschland ist zum zweiten Mal Gastgeber einer WM. Unter welchen Umständen könnte aus dem Heimvorteil ein Nachteil werden?

Das kann passieren. Wenn man a) schlecht spielt, nicht die richtige Einstellung mitbringt oder wenn wir b) vorgeführt und uns dagegen nicht genügend wehren würden.

Sie haben es ’74 teilweise auch erlebt, beispielsweise beim Spiel gegen die DDR.

Früher war das Publikum viel kritischer als heute. Wenn man heute ins Stadion geht, stehen die Leute bedingungsloser hinter ihrer Mannschaft. Wenn ich damals am Anfang drei lange Bälle geschlagen habe und zwei kamen nicht an, fingen die Leute an zu pfeifen. Heute spielt ein Verein in der Bundesliga 50 Minuten wirklich ganz schlecht – und niemand pfeift. Die Leute haben heute eine andere Einstellung zum Fußball. Sie lieben den Fußball, sie lieben die Stadien, sie lieben den Event. Da wird die Leistung des Spielers nicht so kritisch betrachtet wie noch vor zwanzig oder dreißig Jahren.

Wie war das Publikum 1974?

Zum Auftakt gegen Chile haben wir sehr schlecht gespielt. Gegen Australien, im zweiten Spiel, war ich persönlich dann ganz gut, da habe ich ein Tor gemacht, aber ein großer Teil der Mannschaft wurde ausgepfiffen. Gegen die DDR gab es zum Schluss auch Pfiffe. Die DDR haben wir unterschätzt. Im Nachhinein war das vielleicht der Knackpunkt zum WM-Titel. Wir haben nach der Niederlage lange diskutiert. Uns war klar: So geht das nicht. Wir müssen in der Lage und bereit sein, mehr zu geben.

Es heißt, Franz Beckenbauer habe Schön nach dem Spiel gegen die DDR entmachtet.

Der lange Schön wurde immer als großer Zweifler, als zaghaft hingestellt, aber intern war er schon eine starke Persönlichkeit. Er hat sich immer umgehört bei den älteren Spielern, beim Franz und auch bei mir, bevor er sich seine eigene Meinung gebildet hat. Das war einer der besten Trainer, die es gab. Ganz bestimmt. Der wusste schon, was er wollte. Ich habe ja noch sieben oder acht Spiele unter Seppl Herberger gemacht, Herberger und Schön – das war wie Schwarz und Weiß. Der alte Seppl, der war autoritär bis zum Gehtnichtmehr, aber ein überragender Trainer, der genau in seine Zeit gepasst hat. Eines vergesse ich nie: erster Lehrgang in Karlsruhe, wir waren gerade 18. Der Seppl kam ins Zimmer rein, da lagen unsere Klamotten auf dem Boden. Wenn das in zehn Minuten nicht alles weg ist, hat er gesagt, könnt ihr nach Hause fahren. So ging das, wir haben dann sofort alles weggeräumt. Der lange Schön war ein ganz anderer Typ. Der hat lange Leine gelassen, aber letztlich wusste er immer selbst, was er machte.

Was hat der Titelgewinn damals in Deutschland bewirkt, und was würde er heute bewirken?

Der Titel, der am meisten bewirkt hat, war zweifellos der 54er. Dadurch bekamen wir als Nation eine Akzeptanz, die wir vorher nicht hatten. Wir waren ja so kurz nach dem Krieg außen vor. Dieser Titel hat uns der Staatengemeinschaft wieder etwas näher gebracht. ’74 war es eigentlich nur eine Bestätigung für unsere Situation. Wir hatten eine starke Nationalmannschaft, und wir hatten in Bayern München und Borussia Mönchengladbach unerhört starke Vereinsmannschaften. Das waren die besten Jahre des deutschen Fußballs. Der Titel war eine Selbstverständlichkeit. Der konnte gar nicht mehr viel bewirken. Sollten wir den Titel heute holen, kann er uns nicht bestätigen – weil wir ja im Moment nicht ganz oben stehen. Der würde uns aber sofort wieder da oben hinbringen. Mit dem Titel wären die letzten Jahre vergessen, in denen wir keinen Großen mehr geschlagen haben.

Jürgen Klinsmann wurde vor der WM vorgeworfen, dass er zu viel experimentiert hat. Auch die Mannschaft, die ’74 den Titel holte, war nicht die, die das Turnier begann. Inwieweit muss sich eine Mannschaft im Lauf eines Turniers erst noch finden?

Manchmal klappt es von Anfang an, dann hast du das Glück auch als Trainer. Und manchmal, wie ’74, findest du die Idealbesetzung erst später. Bei uns war es nach dem DDR-Spiel. Gegen Jugoslawien ging es damals eigentlich erst richtig für uns los, davor war alles Geplänkel. Bei einer Nationalmannschaft geht es nicht ums Einspielen. Da kommen die elf besten Spieler zusammen, die müssen nur miteinander klarkommen auf dem Platz. Dafür ist man ja drei Wochen im Trainingslager.

Sie waren damals in Malente.

Wenn ich Trainer wäre – ich würde immer nach Malente gehen. Diese Abgeschiedenheit, diese Ruhe, da kann ich mich zehnmal besser vorbereiten, als wenn ich in Berlin über die Straße laufe, und da kommen hundert Leute und wollen dies und jenes haben. Aber ich kann das nicht mehr beurteilen, weil das eine andere Generation ist. Ich würde heute in die letzte Ecke gehen, Zaun zumachen und dann aber alles auf das Turnier konzentrieren.

Die Deutschen haben den Ruf, eine Turniermannschaft zu sein. Wann hat sich das entwickelt?

Das waren wir schon 1966. Wir haben immer den Weg gefunden über das Team. Nicht elf Freunde, das war ’54. Aber der Mannschaftsgeist war sehr wichtig. Ich glaube, die Deutschen haben so eine Mentalität: Da ist ein Ziel. Das erreichst du nicht erst in einem Jahr, sondern du kannst es in vier Wochen schaffen. So etwas liegt uns Deutschen gut: sich auf eine Sache zu konzentrieren, die nicht so weit weg liegt: So, das packen wir jetzt!

Sie waren 1974 der Spielmacher des späteren Weltmeisters. Wie viel Ihres Tuns im Finale war geplant, wie viel intuitiv?

Ich bin in das Finale gegangen und habe mir gesagt: Heute musst du alles geben, dein Bestes, um Weltmeister zu werden. Gute Spieler zeichnete damals aus, dass sie in der Lage sind, diszipliniert ihrer Aufgabe nachzugehen und darüber hinaus kreativ etwas zu veranstalten. Motivieren musste man mich nie. Meine Eltern waren nicht vermögend. Wir waren acht Geschwister, ich war der Kleinste, und mein Vater hat für mich zehn Mark im Monat bezahlt, damit ich aufs Gymnasium konnte. Er hat gesagt: Du muss das Abitur machen. Zehn Mark haben diesem Mann zugesetzt. Das vergesse ich mein Leben nicht. Ich habe meine Eltern geliebt, aber ich habe mir immer gesagt, so, wie es deinen Eltern geht, darf es dir nicht gehen. Damals war der Fußball der Weg für mich, frei und unabhängig zu werden. Wenn ich heute meine drei Kinder sehe – woher sollen sie diese Motivation nehmen? Der Alte hat genug, wenn ich nicht allzu viel verkehrt mache, können sie auch noch wunderbar davon leben. Wenn du heute ein bisschen gut spielen kannst, kriegst du einen Vertrag und dein Leben ist gesichert.

Was denken Sie, wenn Sie ein Länderspiel in der ARD gucken, und dann steht Günter Netzer da und haut richtig drauf auf die Mannschaft?

Der Günter und ich, wir sind nach wie vor sehr gut befreundet. Ich hab ihm schon mal gesagt: Diesen Job würde ich nie machen. Du schaffst dir auf Dauer nur Feinde. Wenn du nichts sagst, beschwert sich die ARD, die ihn ja dafür engagiert hat, dass er etwas sagt. Und wenn du etwas kritisierst, kriegst du Ärger mit den Jungs da unten. Das ist eine undankbare Aufgabe, aber er löst die bis zum heutigen Tag erstklassig.

Aber Sie denken nicht: Der hat gut reden, früher in der Nationalmannschaft hat er auch nicht immer überragend gespielt …

Nein, wenn er in dieser Position ist, muss er doch etwas kritisieren.

Sie würden den Job nicht machen, weil Sie es keinem recht machen könnten?

Nein, der Punkt ist, ich muss das nicht in der Öffentlichkeit austragen. Wenn ich was nicht gut finde, dann brauche ich mich nicht vor die Kamera zu stellen und – Sie wissen, was ich meine: Wenn ich jemandem wehtun muss, mache ich das lieber intern.

Inwiefern hat der Weltmeistertitel Ihr Leben verändert?

Natürlich hat dieser Titel mir geholfen. Für das Leben danach hatte ich eine gute Ausgangsposition. Die Leute sagen: Ah, da kommt der Overath, der ist Weltmeister. Wenn ich immer nur Zweiter, Dritter oder Vierter geworden wäre, hätten die Leute mich wahrscheinlich sehr viel schneller vergessen.

Sie haben Ihre größten Erfolge im Nationaltrikot gefeiert. Sind Sie noch Fan der Nationalmannschaft?

Fan? Ich habe da 81-mal gespielt, ich drücke der Nationalmannschaft natürlich die Daumen, aber ich bin kein Fan im eigentlichen Sinne. Ich muss nicht bei jedem Länderspiel dabei sein. Da bewege ich mich lieber selbst und kicke mit ein paar Freunden.

Das Gespräch führten Stefan Hermanns und Michael Rosentritt.

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