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Sport: Haile Gebrselassie: Goldmedaille für die Kirche

Mit baumelnden Beinen sitzt Haile Gebrselassie auf seinem Stuhl und streicht der zweijährigen Tochter Aden über die Haare. Seine Frau Alem trägt die sechs Monate alte Meraht auf dem Arm und bringt Kuchen.

Mit baumelnden Beinen sitzt Haile Gebrselassie auf seinem Stuhl und streicht der zweijährigen Tochter Aden über die Haare. Seine Frau Alem trägt die sechs Monate alte Meraht auf dem Arm und bringt Kuchen. Der Garten der Villa in Addis Abeba ist voll mit Freunden und Bekannten: Familien-Idylle beim äthiopischen 10 000-m-Olympiasieger und siebenfachen Weltmeister. Doch langsam wird es ernst: Der 27-Jährige, der gestern in Zürich eine neue Glanztat vollbringen wollte (das Meeting hatte bei Redaktionsschluss dieser Ausgabe noch nicht begonnen), will seinen Titel bei den Olympischen Spielen in Sydney verteidigen.

Gebrselassie verdient Millionen durchs Laufen und lässt in Addis Abeba gerade als Altersvorsorge ein zweites Geschäftszentrum bauen: 650 Quadratmeter, zehn Stockwerke, ein Fitnessstudio und ein Penthouse, vier Millionen Dollar Kosten. Rund 100 Personen arbeiten auf der Baustelle. Insgesamt sollen etwa 800 Leute finanziell in seine Projekte involviert sein.

Der Langstreckenläufer ist ein gemachter Mann - und eine nachdenkliche Person. "Wie kann ich glücklich sein, wenn acht Millionen meiner Landsleute vom Hunger bedroht sind", sagt der 1,65 m große Athlet kopfschüttelnd. Er selbst weiß, wie es ist, hungern zu müssen. Schließlich ist er mit neun Geschwistern aufgewachsen.

"Ich kann nicht den Menschen in ganz Äthiopien helfen, aber ich versuche es zumindest in Addis Abeba", erklärte Gebrselassie. Doch er spürt dabei eine große psychische Belastung. "Als ich angefangen habe zu laufen, hatte ich Probleme, weil ich kein Geld hatte. Nun habe ich Geld, und ich habe auch Probleme." Wer in den verstaubten Straßen von Addis Abeba nach ihm fragt, bekommt umgehend Auskunft. Egal ob von den Obsthändlern in den halb zerfallenen Holzhütten, den Taxifahrern in ihren blauen, verrosteten Vehikeln mit den weißen Dächern oder den mageren Jungs, die sich mit Esel, Schafen und Ziegen sicher zwischen den Autos und den hoffnungslos überfüllten orangefarbenen Stadtbussen durchschlängeln. Jeder kennt Haile. Selbst die kleinen Mädchen, in ihren zerfetzten, schmutzigen Kleidern und den verfilzten Haaren wissen, von wem die Rede ist. Vermutlich hat der Weltrekordler über 5000 und 10 000 m ihnen ab und und zu ein paar Birr zugesteckt, wenn sie ihm ihre kleinen braunen Hände hingestreckt haben.

Zum Training zieht sich Gebrselassie ins Nationalstadion von Addis Abeba zurück oder in die Höhe, nach Entoto. Hier spult er sein Programm ab und hat nach monatelanger Pause wegen Achillessehnenbeschwerden seine Form wieder gefunden. "Manchmal dachte ich, meine Karriere wäre vorbei", gestand Haile Gebrselassie. Doch diesmal hat nicht er den Menschen Mut gemacht, sondern sie haben ihn moralisch unterstützt.

Oft sieht sich Gebrselassie in der Wohnzimmervitrine seine Medaillen an. Die Goldmedaille von Atlanta fehlt. Die hat er der Kirche geschenkt: "Ich hatte es versprochen, wenn Gott mich gewinnen lässt."

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