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Das waren noch Zeiten. Sowohl im Feldhandball, dem Vorläufer des heutigen Hallenhandballs, als auch später bestimmten die deutschen Teams das internationale Niveau stets maßgeblich mit. Nun hat die Nationalmannschaft erstmals die EM-Teilnahme verpasst.

© dpa

Handball-EM ohne Deutschland: Chronik eines Niedergangs

Zum ersten Mal nimmt die deutsche Handball-Nationalmannschaft der Männer nicht an der Europameisterschaft teil – eine Entwicklung die sich angedeutet hat.

Unter klimatischen Aspekten war es selbstverständlich das schönere Ziel. Wer sich dieser Tage als Mitteleuropäer mit gesundem Wärmeempfinden zwischen einem Ausflug nach Dänemark und Tunesien entscheiden muss, der muss sich eigentlich gar nicht entscheiden: einerseits Temperaturen um den Gefrierpunkt im windigen Norden Europas, andererseits sonnige 20 Grad Celsius im Norden Afrikas. So gesehen besaß der Flieger, der am Freitag von Düsseldorf aus Richtung Tunis abhob, zwar die korrekten Zielkoordinaten.

Dummerweise hatte die Sache allerdings einen Haken. Denn an Bord waren keine Pauschaltouristen, sondern Deutschlands Handball-Nationalspieler. Und die wären, Wetter hin oder her, natürlich lieber nach Dänemark geflogen. Da beginnt am Sonntag nämlich die Europameisterschaft – und zum ersten Mal in der Geschichte entsendet der mitgliederstärkste Handball-Verband der Welt keine Delegation zur Kontinentalmeisterschaft. Notgedrungen hat Bundestrainer Martin Heuberger seinem Team eine mehrwöchige Beschäftigungstherapie inklusive zweier Testspiele gegen Afrikameister Tunesien verordnet – mit Blick auf die erstmalig verpasste Olympia-Teilnahme 2012 ist es gewissermaßen der Tiefpunkt nach dem Tiefpunkt.

Wie konnte es so weit kommen in einem Sport, deren Vorgänger Feldhandball die Deutschen erfunden und geprägt, den die Auswahlmannschaften des Deutschen Handball-Bundes (DHB) auf höchstem internationalem Niveau über Jahrzehnte mitbestimmt haben, der in Sachen Popularität lange als sicher gesetzte Nummer zwei hinter Fußball galt?

Der deutsche Verband ist tief gespalten

Wer dieser Frage nachgeht, gelangt schnell zu einer Erkenntnis: Die Sportart ist nicht erst seit der Wahl des neuen DHB-Präsidiums im September vergangenen Jahres tief gespalten. Arrivierte Kräfte wie die ehemaligen Bundestrainer Heiner Brand oder Vlado Stenzel beanspruchen für sich, schon vor Jahren auf unzeitgemäße Trainingsmethodik hingewiesen und andere Missstände wie den hohen Ausländeranteil in der Bundesliga hingewiesen zu haben. Deren Kritiker wiederum entgegnen, es sei lediglich bei öffentlichkeitswirksamen Hinweisen geblieben. Irgendwo dazwischen stehen die neuen Machthaber um Präsident Bernhard Bauer und seinen Vize Bob Hanning, die in schöner Regelmäßigkeit mit Innovationen daherkommen, beim alten Präsidium um Heiner Brand aber nicht sonderlich beliebt sind. Wo also liegt die Wahrheit?

Die Nationalmannschaft befindet sich seit Jahren in einer Negativspirale

„Manchmal braucht es große Kontroversen, wenn dabei etwas Sinnvolles herauskommen soll. Deshalb ist es vielleicht ganz gut, dass im Moment Feuer unterm Dach ist“, sagt Andreas Thiel. Der 257-fache Ex-Nationaltorhüter, der sich in seiner großen Karriere den Beinamen „Hexer“ verdient hat, wertet die einmalige Nicht-Teilnahme an der EM im Gegensatz zu vielen Ex-Internationalen zwar nicht als dramatisch, „weil die großen Turniere im Vergleich zu meiner Zeit nicht mehr alle vier, sondern nur alle zwei Jahre stattfinden und daher automatisch eine sportliche Abwertung erfahren“: Die Mitglieder der Weltmeistermannschaft von 1978 „waren Helden für 20 Jahre“, sagt Thiel. „Und mal ehrlich: Wen interessiert im Vergleich dazu heute schon noch eine Halbfinal-Teilnahme.“ Der siebenmalige Handballer des Jahres, der heute eine Anwaltskanzlei in Köln betreibt, weiß aber auch: „Die Verantwortlichen beim DHB sehen das naturgemäß anders, besonders im Interesse der Sponsorenakquise und der Einnahmensituation im Allgemeinen.“

2019 findet wieder eine WM in Deutschland statt

Zumal sich die Nationalmannschaft ohnehin in einer Negativspirale befindet. Durch die verpasste EM-Teilnahme muss sie im Sommer den Umweg über zwei Play-Off-Spiele gehen, um sich überhaupt für die WM zu qualifizieren, mit der wiederum die unmittelbare Olympia-Teilnahme 2016 zusammenhängt. „Wir können es uns wirklich nicht leisten, drei Großereignisse in Folge zu verpassen“, sagt Thiel, „deshalb sind die Spiele im Sommer von vitalem Interesse für den deutschen Handball.“ Zwar steht der Gegner für besagte Partien noch nicht fest. Fakt ist aber, dass sich Bundestrainer Martin Heuberger – unabhängig vom Ausgang der beiden Spiele – anschließend zu einem bilanzierenden Gespräch beim neuen Präsidium einzufinden hat. Ausgang: offen. Aktuell kann Heuberger allerdings keine sonderlich überzeugenden Argumente liefern, schließlich hat die DHB-Auswahl unter seiner Verantwortung zwei Turniere verpasst.

„Ich bin sehr gespannt, wie es personell und strukturell weitergeht im deutschen Handball“, sagt Andreas Thiel. „Mittlerweile ist es ja so, dass wir uns bei großen Turnieren je nach Tagesform und Turnierverlauf im Bereich zwischen Platz fünf und zehn einpendeln“, ergänzt der ehemalige Nationalkeeper, „bei der großen Generation unter Heiner Brand wusste man dagegen, dass es immer mindestens fürs Halbfinale reicht.“

Immerhin hat das neue Präsidium perspektivisch Maßnahmen ergriffen, um dem weiteren Niedergang entgegenzuwirken. Unter anderem soll in Naumburg zeitnah ein neues Nachwuchszentrum entstehen, zudem hat der DHB gemeinsam mit dem dänischen Verband erst kürzlich den Zuschlag für die Ausrichtung der Weltmeisterschaft 2019 bekommen. „Ich kann garantieren, dass wir da wieder eine schlagkräftige Mannschaft stellen werden, die um den Titel mitspielen kann“, sagt Vizepräsident Bob Hanning.

Für diesen Fall würde sich die Frage nach dem Ausflugsort auch gar nicht erst stellen – das Endspiel findet dem Vernehmen nach in Dänemark statt.

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